Der Tag, an dem Kary Karinaky auf die Welt kam / Bilder einer Ex, von Beat Mazenauer

Lauter Tücken

Der Entdeckung zweiter Teil: Benos Der Entdeckung zweiter Teil: Benos
„Le jour où naquit Kary Karinaky“ und „Tableaux d’une ex“ auf Deutsch

Vor zwei Jahren überraschte der bei uns nahezu Westschwei­zer Autor Jean-Luc Benoziglio mit dem skurrilen Roman "Porträt-Sit­zung". Nun erscheinen zwei weitere seiner Romane auf Deutsch: "Der Tag, an dem Kary Karinaky auf die Welt kam" und "Bilder einer Ex".

"Holen Sie die zurück, und zwar plötzlich" schrieb Kennedy am 22. Oktober an Chrustschow. "Sonst..."
Die Direktorin zögerte, Karys Vater dasselbe zu schreiben.

Benoziglio erweist sich in "Porträt-Sitzung" als meisterhafter, ironischer Chro­nist des gewöhnlichen "petit-train-train"; augenscheinlich sind die banalen Tücken des Lebens sein Lieblingsthema: jene der Objekte und noch viel mehr jene, die von den zwischenmenschlichen Beziehungen ausgehen. Ganz nah an letztere heran pirscht er sich auch im bislang jüngsten Roman "Bilder einer Ex" (1989).

Eigentlich gäben die beiden Liebenden ein hüb­sches Paar ab, widersetzten sich dem Glück nicht widrige Um­stände und ihre gegensätzlichen Charaktere. So aber vergeht die Zeit des Honigmonds im Fluge und wird durch endlose, verflixte Streitereien verdrängt, denen kurzerhand der Rauswurf aus dem Haus der "Ex" ein Ende setzt. Nun leckt der Ich-Erzähler seine Wunden und schildert umständlich das unverdiente Los. In Benoziglios sprühender Schilderung verwandeln sich die Nachbarschaftsgefechte aus "Porträt-Sitzung" in den unerbittlichen Geschlechterkampf, der zuweilen die Grenze zum Absurden hin überschreitet. Uneingeschränkt scheint Murphys Gesetz (Was schief gehen kann, tut es) zu walten; und entgeht ihm doch etwas, springt die Tölpelhaftigkeit des Ich-Erzählers in die Lücke. In "Bilder einer Ex" kehren alte Topoi wieder, die Benoziglio besonders liebt: das stille Örtchen etwa, wo es meist turbulent zugeht, oder die schlecht abgedichtete, verlotterte Mietskaserne, die den verzweifelten Helden in einer auswegslos verworrenen Lebenslage aufnimmt und erst recht zur Verzweiflung treibt.

Von ganz anderer, kaum mehr selbstverschuldeter Tragik bestimmt ist dagegen das Leben der Protagonistin im lautmalerisch betitelten Roman "Le jour où naquit Kary Karinaky" (1986). Benoziglio präsentiert darin den enzyklopädischen Universalismus in abgewandelter Form: rasend schnell, wie in einem Guckkastentheater, flimmert vor unsern Augen das Nachkriegsgeschehen vorüber: politische Ränkespiele, Staatsstreiche, Lumumba, der Algerienkrieg, Eichmann und die Berliner Mauer. Statt der eremitischen Etagenklo-Klause gibt nun die Welt höchstselbst das reale Szenarium zum individuellen Leben ab. Und folgedessen tritt an die Stelle einer geschlossenen Rezeption der Welt im Buch die brüchige Diskontinuität der augenblicklichen Wahrnehmung.

Wer auch immer Kary Karinaky gewesen ist, ihre Geburt 1948 zur Zeit des ersten Nahostkriegs "war für die Dinge der Welt und die des Lebens (die ohnehin keinen Anlass hatten, sich ob einer solchen Nichtigkeit zu ändern) längst kein Grund, nicht in ihrem üblichen Trott weiterzumachen". Die Mutter stirbt bei der komplizierten Entbindung; der Vater, ein Versager vom Schlage des Helden in "Porträt-Sitzung", wandert mit einer andern Frau in die USA aus und lässt die Tochter in der Obhut seiner Mutter zurück. Einen Tag nach Stalins Tod wird Kary eingeschult; und als 1957 aus dem All gerade die ersten Piepszeichen von Sputnik I die Erde erreichen, stirbt die Grossmutter. Kary wird ins Heim abgeschoben, reisst aus, der Vietnamkrieg beginnt und als die Zeitungen voll sind vom Todeskampf des Generalissimo Franco, tritt sie still und leise ab.

So absurd der Traum von der lexikalischen Weltbewältigung in "Porträt-Sitzung" ist, Kary Karinaky findet nicht einmal mehr andeutungsweise zum Selbstbewusstsein des lesenden Universalisten. Auf dem Schulweg begegnet sie jeweils einem Zeitungsmann, dem sie die neuesten Schlagzeilen abguckt. Doch sie kann sie nicht in ein Ganzes einordnen, vielmehr wird Kary von der unaufhörlich tickernden Nachrichtenflut überwältigt und erwürgt von der permanenten Ereignishaftigkeit. Benoziglio schildert die Synchronizität von Lebens- und Weltgeschichte, persönlichen und politischen Katastrophen, indem er beides vermischt. "Wird es jemals ein Jahr geben, in dem nichts passiert? Nichts. Nichts ausser ...", fragt der Erzähler arglos und beweist gleich durch die nachfolgende Aufzählung, dass solches nie eintreffen würde. Ist zu Beginn ausführlich von Karys Kindheit die Rede, werden die Berichte immer spärlicher und versiegen schliesslich fast ganz: "Es vergingen einige Jahre, die damit endeten, dass, von keinem Sakrament der Kirche gestärkt und von keinem Kreis der Lieben umgeben, auch Kary verschied".

Aus Liebeskummer? Näheres verschweigt der Autor und bloss in Andeutungen lässt er durchblicken, dass Kary Künstlerin geworden und zur selbstbewussten Frau gereift sei. Am Ende aber bleibt einzig ihre Zeitgenossenschaft mit dem sterbenden Franco und die zügige Erledigung der ärztlichen Formalitäten.

Benoziglios schwarzer Humor und gallige Narretei zeigen sich hier verwandelt. Er kalauert nicht mehr so unverfroren wie früher, dafür ist sein Ton lakonischer, mitunter fast zynisch geworden. Karys Lebensgeschichte demonstriert in solcher Gestalt das Verschwinden des Individuums in der Moderne und bekräftigt das Ende des Entwicklungsromans. Einzig ihren Selbstmord, den Sprung aus dem Fenster, glaubt der Autor noch erwähnen zu dürfen, weil die Umrisszeichnung von Karys totem Körper wie ein kurzzeitiges Menetekel das Strassenpflaster ziert. Sie selbst hat vor ihrem Tod einmal geäussert, dass es nichts "Schöneres, Düsteres, Stärkeres als diese Kreidegestalt auf einem schwarzen, regennassen Bürgersteig" gebe. Inszenierte sie ihren Tod demnach als Kunstwerk? Wie auch immer, Kinder und Passanten "gewöhnten sich daran und achteten nicht mehr darauf": das Leben als vergängliches Ornament.

Benoziglios Sarkasmus gilt nicht mehr seinen Protagonisten sondern zielt auf die weltpolitische Szenerie. So wenig wir vom schnellen Vorüberhasten wahrnehmen, so sehr drückt das Nachrichtenkarussell das einzelne Individuum zur Seite, ohne dass es wüsste, wie ihm geschieht. Symbolisch hat der Autor alle Namen aus Kary Umgebung mit einem Ypsilon gekennzeichnet (Ryta, Elysabeth). Auf Englisch lautet die phonetische Umschrift dafür [wai] bzw. "why": ein staunendes, überwältigtes "Warum?".

In "Der Tag, an dem Kary Karinaky auf die Welt kam" verfliegen Jean-Luc Benoziglios die unbeschwerte Skurrilität und das spottende Lachen aus "Porträt-Sitzung" fast ganz. Die zahlreichen Katastrophen haben ihm scheinbar zugesetzt und seine Ratlosigkeit gesteigert. Was er sich indes auch davon nicht abhandeln liess, ist die ausdrucksstarke, wandlungsfähige Sprache, die sich seiner Textintention brillant anschmiegt und mit der er das Weltkarussell sinnfällig macht und für einen Moment anhält. Das überzeugende Resultat signalisiert, dass mit Jean-Luc Benoziglio weiter zu rechnen ist.

Jean-Luc Benoziglio: Der Tag, an dem Kary Karinaky auf die Welt kam. Roman. Deutsch von Michael Mosblech;
Bilder einer Ex. Roman. Deutsch von Claus Sprick, 319 Seiten, Taschenbuch. Beide Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1993.

Beat Mazenauer

 

www.culturactif.ch