Ein Porträt aus zwei Blickwinkeln

Wenn Peter Bichsel einen runden Geburtstag feiert, ist dies ein Ereignis von öffentlichem Interesse, denn der am 24. März 1935 in Luzern geborene und bei Solothurn lebende Erzähler hat nicht nur vielgelesene Geschichten geschrieben. Wenn er sich grüblerisch und bedächtig zu Wort meldet, denkt er häufig vor, was an der Schweiz zum Nachdenken reizt.

Der Erzähler. Ein Schweiger

Einmal auf seinen Geburtstag angesprochen, hat Peter Bichsel spontan mit einem herzhaften "schrecklich" reagiert und so gleichsam den unabwendbaren Rummel um seine Person abzuweisen versucht. Doch längst weist sein Ruf über literarisch interessierte Kreise hinaus. Mit seiner bedächtigen Art und seinen kritischen Einwürfen ist Peter Bichsel eine bekannte Figur geworden, nicht nur in Solothurn. Mit seinen Zeitungs- und Radiokolumnen erreicht er auch ein Publikum, das seine Bücher nicht unbdingt lesen möchte.

Erstmals hat Bichsel 1964 mit seinen mittlerweile legendären "Milchmann"-Geschichten für Aufsehen gesorgt. Kurze, scheinbar ganz ungekünstelte, unprätentiöse Erzählungen mit den für sie typischen "Wandtafelsätzen". Allein der Schein hat von Anfang an getrügt. Ihre vorgebliche Schlichtheit verbirgt einen Stilwillen und eine Schreibanstrengung, die von Bichsels Texten alles Leichtgewichtige nehmen. Aufmerksam gelesen, werden darin unter den aneinandergereihten Hauptsätzen, dem beschränkten Wortschatz und den häufigen Konjunktivformen immer wieder feinste Haarrisse erkennbar. In Form von subtilen Widersprüchen oder unlogischen Zeitsprüngen untergraben sie die oberflächliche Harmlosigkeit und lassen etwas Widersprechendes in die Erzählungen ein: das Schweigen.

Der Fabulierer Bichsel ist so auch ein fabelhafter Schweiger - ähnlich wie jener Betrunkene in einer Kolumne, der sagt: "ich erzähle dir alles, und schweigt". Mit besonderer Sorgfalt bringt Bichsel die stumme Langeweile und die alltägliche Sprachlosigkeit, die ein Verschweigen und Verstummen ist, zu Wort.

Dieses Erzählkonzept zeichnete das Bändchen "Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen" und noch ausgeprägter die "Kindergeschichten" von 1969 aus. Im Kern ist ihm jedoch Bichsels ganzes schmales Werk bis hin zum letzten Buch "Zur Stadt Paris" geschuldet. So präsentiert sich uns dieser Schriftsteller als einer der seltenen echten Erzähler, die nicht nur den märchenhaften Konjunktiv "Was wäre wenn..." in moderne Rede setzen, sondern ebenfalls die Gewöhnlichkeit des Erzählens und sein häufiges Scheitern thematisieren.

Ein Tisch ist ein Tisch

Als speziell auf ihn zugeschnittene Form hat Bichsel die fast vergessene Kalendergeschichte wiederentdeckt und in Form der Kolumne neu belebt. Hierin schweigt er sich aus, das heisst er verweigert herkömmliche literarische Ansprüche, dafür kann er in ihr all jene Erfahrungen und Dinge ansprechen, über die wir so gerne hinwegsehen. Bichsels Kolumnen verbinden gerne das Schweigen mit dem Berichten.

Dieses schweigende Erzählen findet sich vorbildhaft in der Kindergeschichte "Ein Tisch ist ein Tisch" realisiert, die rechtzeitig zum Lobpreis des Autors in einer schön illustrierten Ausgabe neu erschienen ist. Dem einleitenden "Ich will erzählen" folgt hierin das Schweigen auf dem Fuss. Vereinsamt akzeptiert der Mann nicht länger, dass ein Tisch ein Tisch ist, allein die eigenen Wortschöpfungen lassen ihn endgültig verstummen. Nicht weil er nichts mehr sagen kann, vielmehr weil er nicht mehr verstanden wird. Darin liegt seine Tragik.

Eine Banalität, die indessen auch eine politische Dimension öffnet. Wenn leise die Sprechfähigkeit zerbricht, zieht dieser Verlust die Unmöglichkeit der Artikulation und Argumentation nach sich. Doch fruchtbare Gespräche sind die Wiege der Demokratie, wie Bichsel schon früh betonte, daher hat er sich stets um die kmmerliche, von voreiligen Kompromissen gezeichnete Diskussionskultur in "des Schweizers Schweiz" gesorgt. Es bleibt zu hoffen, dass Peter Bichsel diesem Bestehenden weiterhin Schwierigkeiten machen wird.

Der Erzähler. Ein Leben

Der 1935 geborene Peter Bichsel ist ein Zuspätgeborener, er konnte die legendäre Aaregfrörni in Olten nicht mehr miterleben. Lange Zeit hätte er es sich gerne gewünscht. Dafür durfte der kleine Peter-Knirps dem General Guisan die Hand drücken. Und 1947 in jenem heissen Sommer, als der Zwölfjährige in Huttwil in den Ferien weilte, war er dabei, als "das Therometer bei der Apotheke" platzte. Derweil gab sich die Schweiz alle Mühe, die Vergangenheit zu vergessen. Ein, zwei Jahre früher schon hatten sich die ersten Suchterscheinungen bemerkbar gemacht: Buchstabensucht "bis zur Vergiftung". Ein Heft mit der Aufschrift "Was ich alles weiss" war das erste Zeugnis einer versuchten Linderung. Doch noch mussten ein paar Jahre vergehen, bis diese Versuche ihre volle Wirkung entfalten sollten.

1949 trat der damals "glühende Patriot" und "überzeugte Abstinente" aus der Pfadi aus. Namen wie Koblet, Bartali oder Ballabio weckten dafür sein Interesse. Am 4. Juli 1954 war Bichsel vor dem Fernseher Zeuge, wie Deutschland im Berner Endspiel Ungarn mit 3:2 bodigte und erstmals Weltmeister wurde.

Sport-Geschichten

Er "möchte ihn nicht mögen", den Sport, sagt er heute, doch der Sport weiss prima Geschichten zu erzählen und die wiederum mag Bichsel. Zumindest mag er sie solange, wie sie nicht bloss als Pausenfüller zwischen Werbeblöcken dienen. 1963 im November sodann sass Bichsel in einer Berliner Kneipe, als die Ermordung von John F. Kennedy gemeldet wurde: eine Erschütterung für ihn. Ein paar Monate zuvor hatte er sein erstes Manuskript an den Walter Verlag abgeschickt und so den Keim für seinen Erfolg als Schriftsteller gesetzt, wie unverfängliche Zeugen berichten. Peter Bichsel indes erinnert sich lieber an jene Schulstunden, denen er Jahrzehnte später noch seine Alpträume schuldet. Immer wieder wacht er betäubt auf mit dem Gefühl, knapp einer Katastrophe entronnen zu sein, weil er vergessen habe, seinen Schülern das Rechnen beizubringen.

Irgendwann entdeckte er dann auch Amerika. Später ging er ein zweites, drittes Mal hin, so dass die Amerikaner darüber nur mehr die Nase rümpften. Auch den geliebten "Wilhelm Meister"-Roman nahm er sich ein zweites, drittes Mal vor, um sich zu erinnern, mit welcher Erregung er ihn zum ersten Mal gelesen hatte. Im Mai 1998 schliesslich gastierte Bichsel, während Grass an den Literaturtagen Gedichte vorlas, mit dem FC Solothurn im Basler Joggeli. Den für seine Mannschaft siegbringenden Treffer vermochte er von der Tribüne aus leider nicht zu erzielen. Es wäre zu schön gewesen.

So erzählt Peter Bichsel halt weiter Kolumnen, jeden Monat eine, das kann er. Der jüngste Band mit jenen aus den letzten fünf Jahren, dem dieser lückenhafte Lebenslauf geschuldet ist, würdigt seinen Geburtstag auf bescheidene wie eloquente Weise. Obendrein erweisen ihm die anekdotischen, gescheiten und zuweilen auch etwas trockenen Aufsätze im Band "In Olten umsteigen" die Ehre.

Peter Bichsel liebt die kleine Differenz. Einer seiner Lieblingssätze stammt von Jean Paul: "Es ist verdammt langweilig, zu sein". Würde das Komma vor die Langeweile gesetzt, entstünde gleich eine andere Geschichte. Dieses Zitat ist Programm. Vieles dreht sich bei Bichsel um die Langeweile, doch in seiner Gegenwart wird es nie langweilig. Es lebe der Erzähler!

Beat Mazenauer

Quelle: Peter Bichsel : Alles von mir gelernt. Kolumnen 1995 - 1999.
In Olten umsteigen. Über Peter Bichsel. Hg. von Herbert Hoven.

Ein längerer Aufsatz über das Werk von Peter Bichsel sowie eine Besprechung von "Cherubin Hammer und Cherubin Hammer" findet sich auf der Website von Beat Mazenauer

 

www.culturactif.ch