Die Titel seiner Romane haben sich seit jeher durch ihre lapidare Schlichtheit ausgezeichnet. "Der Sog", "Der Bann" und "Der Kreis" sind zum Beispiel die drei Bände seiner Romantrilogie überschrieben. In ihr erzählt der in Stäfa und Latsch ob Bergün wohnhafte Hans Boesch aus dem Leben seines Alter egos Simon Mittler.

Verschwinden im Warteraum des Erinnerns
"Der Kreis" schliesst Hans Boeschs autobiographisch gefärbte Romantrilogie ab

Hans Boesch ist Schriftsteller und Ingenieur. Er verbindet künstlerisches mit technischem Talent, ohne das eine dem andern aufzuopfern. Sein schriftstellerisches Schaffen reicht von hymnisch wuchernder Lyrik bis hin zu verkehrstechnischen Forschungsarbeiten. Damit überspannt es eine Kluft, die sich zwischen Natur und Technik auftut. Im Aufsatz "Die Angst vor dem Riesen" hat er sie der damals 32-jährige Boesch 1958 erstmals literarisch formuliert. Voller Idealismus tritt ein frisch gebackener Bauingenieur in die Arbeitwelt ein, um, wie er naiv meint, das "glasklare Netz Mathematik" in der Praxis auszuwerfen. Doch bei dem Fischzug bleiben nur Dreck und Geld hängen. Boesch, dessen Enttäuschung sich in diesem Text spiegelt, gewann die Einsicht, daß der moderne Gott der Technik "die Eigenschaft von Isolatoren" besitzt, also trennt.

Über dieser Kluft hat Hans Boesch sein literarisches Werk errichtet. Als Antwort auf das Unheil des Spannungsverhältnisses von Natur und Technik propagiert er eine "Kultur des Langsamen": "der Mensch braucht Zeit". Die total(itär)e Mobilmachung zerstört vor allem die Stadt als sinnlichen Lebensraum, als "Heimat", in der Kontakte persönlich gepflegt und Konflikte direkt ausgetragen werden können.

Dieses Themenspektrum prägt auch die Romantrilogie, die zwischen 1988 und 1998 erschienen ist. "Der Sog" hiess der erste Band, auf den nach einer kurzen Pause "Der Bann" und schliesslich "Der Kreis" gefolgt sind. Gesättigt von autobiographischen Eindrücken erneuern sie auf gleichsam abgeklärte, erzählerisch schlichte Weise die alten Themen. "Der Sog" kehrt zurück in die Erfahrungswelt des jungen Knaben, "Der Bann" schildert die naive Begeisterung des Erzählers für die Geometrie, "Der Kreis" zuletzt überblickt mit ruhiger Gelassenheit das gesamte Jahrhundert.

Die Trilogie

"Heimliches und Verstecktes regte sich überall" im Dorf, in dem der kleine Simon mit seiner Familie lebt. Das Dorf ist Heimat, hier sammelt er seine Erfahrungen. Doch ringsum lauern Bedrohungen in Form von Naturgewalten, familiären Krisen und politischen Gefahren aus dem nahen Nazideutschland. Sie fordern ihre Opfer, darunter auch Simons Mutter. Aus der Perspektive des Jungen spürt Boesch im ersten Band der Trilogie, "Der Sog", der kollektiven Beklemmung nach, die die harmonische ‚Quadratur‘ der Familie, der Heimat bedroht.

In "Der Bann" begegnen wir Simon Jahrzehnte später vor dem Hintergrund der 68er Unruhen wieder. "Längst über dreissig" arbeitet er nun als Geometer und versucht, fasziniert von der Magie des Dreiecks und der Idee, alle Lebensäusserungen dieser Grundform der triangulierten Weltoptik zu unterwerfen. Die kecke Aurora wirbelt seinen Idealismus aber tüchtig durcheinander. Als Simon allmählich die Furcht vor ihr überwindet, lässt ihr jugendlicher Unternehmungsgeist ihn gewahr werden, dass seine Freunde bloss grossmaulig von der Revolution palavern, derweil draussen die wirklichen Barrikadenkämpfe toben. Die Generation von Simon ist "zu spät gekommen".

Seither sind abermals drei Jahrzehnte vergangen. Simon Mittler ist inzwischen älter, auch etwas müde geworden. Ein paar Jährchen mehr noch hat sein Freund Aplanalp auf dem Buckel. Der Überschwang, der vor dreissig Jahren - vor dem Hintergrund der 68er Krawalle - ihre Freundschaft gekennzeichnet hat, ist verflogen. Aplanalps Frau Valerie lebt nicht mehr; und die damaligen Liebesbande zwischen Simon und Aurora haben sich seither mehrfach verwirrt.

Nun sitzen sie in einer Wirtsstube im engadinischen Bever. Draussen rüttelt der Sturm an den Läden und verzögert das Eintreffen der weiteren Gäste. Gemeinsam wollen sie das Ende des Jahrtausend feiern, obgleich der Kalender erst den Januar1998 anzeigt. Ihre Gastgeber Paola-Madlaina und Bartolomeo haben diese spleenige Idee entworfen, um dem epochalen Anlass auf persönliche Weise gerecht zu werden. Wartend kommen die vier ins Plaudern, Erzählen, Erinnern.

"Der Sog" war symbolisch geprägt durch die (lädierte) Quadratur der Familie. Sie wurde in "Der Bann" abeglöst durch Faszination für die Magie des Dreiecks, der triangulierten Weltoptik: "Alles, was wir erfassen, erfassen wir im Dreieck. Linkes Auge, rechtes Auge und der Punkt, den wir sehen". Nun schliesst sich der Kreis des Lebens in einem Text, der einem musikalischen Rondo gleicht.

Die geometrische Zeichensprache ist typisch für Hans Boesch. Bis zu seiner Pensionierung wirkte er als Stadtplaner an der ETH Zürich und begründete 1975 die "Arbeitsgemeinschaft Recht für Fußgänger" (ARF) mit. Im Unterschied zu den meisten seiner Kollegen, die sich dem Autobahnbau hingaben, versuchte er der totalen Mobilisierung eine "Kultur des Langsamen" entgegenzuhalten. Diese Auseinandersetzung prägt auch seine Romane und Erzählungen. Unbeirrt von gängigen Moden reflektiert er in ihnen das Spannungsverhältnis zwischen den Polen Natur / Heimat und Technik / Mobilität: zwischen wuchernder "Ranke" und geometrischer "Raute".

Der Kreis schliesst sich

Jetzt also der Kreis, zu dem sich alles schliesst. Bei Hans Boesch steht die Kreis-Figur nicht für eine esoterische Marotte, sondern für ein erzählerisches Programm. Vor 40 Jahren sog der tolpatschige "junge Os" im gleichnamigen Debütroman die Natur mit allen Sinnen in sich hinein; im "Kreise" sitzen nun Simon und Aplanalp kurzatmig geworden in der Wärme, lauschen der zerrinnenden Zeit und warten auf die Erinnerung: "Was bleibt ist der Umriss; der Umriss des Wartens, die Sehnsucht."

Der erzählerische Einstieg, in dem diese Erinnerung erst stossweise, in kurzen Schüben hervorbricht, als ob sie sich ihrer selbst vergewissern müsste, wirkt sprachlich noch etwas zaghaft. Vom Ich-Erzähler in indirekter Rede wiedergegeben, werden Sätze, nicht Geschichten ausgetauscht. Wie diese allmählich aber freier zu sprudeln beginnen, sich verselbständigen, entfaltet sich jener kraftvolle Erzählsog, der seit jeher Boeschs Prosa auszeichnet. Diese beeindruckt dann am stärksten, wenn die Figuren nicht reden, sondern fühlen und agieren, wenn die Geschichten nicht erklären, sondern erzählen.

Ihre äussere Szenerie bilden die Berge und Täler rund um den Albula-Pass zwischen Bever und Bergün. Schon im Roman "Die Fliegenfalle" (1968) hat sich in dieser Gegend ein Kampf zwischen Naturgewalten und Ingenieurskunst zugetragen, in dem die Freunde Jul und Pardiel voneinander getrennt wurden. Ansatzweise entfaltet sich dieses Spannungsfeld hier von neuem. Draussen tobt der Sturm und lässt die Menschen in ihren Behausungen klein werden.

In dem alten Tagebuch, das Paola-Madlaina von ihrer Urgrossmutter zufällig in einer Truhe gefunden hat, entdecken Simon und Aplanalp, der Archtitekt, Zeugnisse vom Bau des Albula-Bahntunnels von 1902/3. Doch grösseres Interesse beanspruchen vergilbte Hinweise auf einen Mann namens Geckeler, der zu jener Zeit hier vorübergekommen sein soll und den die Urgrossmutter offenbar lieb gewonnen hat. In diesem Geckeler sieht Aplanalp seinen verschollenen Grossvater wieder, der wie er und Simon aus dem Rheintaler Riet stammte und nie von einer Venedig-Reise zurückgekehrt war. Zusammen mit Valerie hat Aplanalp jahrelang nach Spuren von ihm gesucht, um erst hier in der warmen Wirtsstube sein Schicksal zu erfahren.

Eines Tages aber machte er sich trotz der Zuneigung der "Urgrossmutter" auf den Weg nach Hause und verschwand in einer Schneewähe auf der Albula. Unten durch den im Bau begriffenen Tunnel wollte er nicht. Die Bemächtigung der Natur durch die Technik ist in diesem Roman vordergründig nicht mehr zentral. In Zeichen wie dem tobenden Schneesturm oder in der unscheinbaren Aufmerksamkeit für das Spiel der Hände schwingt sie gleichwohl mit. Im Buch "Eckpfosten" hat Henri Michaux Notizen über "die Hände, diese Instrumente der Zuneigung und der Sanftheit" festgehalten; die Hände, die zugleich zur Nützlichkeit taugen und den Menschen zum "Ausgräber, Forscher, Handwerker, Arbeiter, Henker" machen.

Hinein verwoben in die Geschichte von Geckeler und der Urgrossmutter, die damals das Wirtshaus in Bever führte, ist die Geschichte von Paola-Madlaina und Bartolomeo. Weil ihr Vater sie mit einem Geschäftsfreund verheiraten wollte, riss sie von zuhause aus und fand bei der Urgrossmutter Unterschlupf. Diese erinnerte sich noch allzu gut an die eigene Zwangsheirat und an die flüchtige Liebe zu dem verschollenen Geckeler, deshalb verstand sie Paola-Madlainas Flucht. Als Ansporn zum Eigensinn vermachte sie ihrer Urenkelin testamentarisch das Wirtshaus in Bever, in dessen Stube die Erzählenden nun sitzen und sich erinnern.

In mehreren Erzählkreisen umspielt Boesch in diesem Roman den ewigen Widerspruch zwischen Fernsucht und Heimweh, den besonders die rauhe Bergwelt hervorruft. Jene animiert zur Flucht, dieses kann nur durch eine Rückkehr gestillt werden. Paola-Madlaina beschreibt diese Unruhe mit einer schönen Metapher. Der Berg sei die rauhe Naht, mit der das warme südliche und das kühle Tuch des Nordens zusammengenäht seien. "Die Fernsucht aber, die man im Unterland auch Sehnsucht nenne, ein Wort, das keiner gern höre, diese Fernsucht sei die Nadel, die durch den Stoff fahre, den dunkleren Stoff und den helleren. Und ihr Weg, das Hin und Her der Fernsucht, der Sehnsucht, sei der Faden."

"Jeder Kreis ist ein Hin und Zurück."

Dieser Abschlussband der Simon-Trilogie ist vielleicht das mildeste Buch von Hans Boesch. Keine nostalgische Erinnerung, eher die gelassene Rückschau auf ein Jahrhundert. Der leise mitschwingende Pessimismus wird äusserlich am Ende durch die Ankunft Auroras aufgehoben. Im Grunde aber beruhigt ihn die schwebende Sehnsucht, die Erinnerung. "Einer, von dem du erzählst, lebt", sagt Aplanalp einmal. "Der Kreis" ist so ein Abschluss, aber hoffentlich kein Ende.

"Der Sog", weniger hymnisch als "Der junge Os", filtert die reale, vom Autor erinnerte Wirklichkeit durch die Phantasie des Jungen und verleiht ihr erzählerisch eine feinsinnige, kraftvolle und unangestrengt parataktisch geordnete Form. Poesie ist hier nicht von des Dichters Gnaden, sondern steckt in der Wirklichkeit selbst. Brilliert dieser Band durch seine Reife und Schlichtheit, wirkt "Der Bann" stilistisch etwas geglättet. Seine Stärke liegt eher in der inhaltlichen Doppelbödigkeit, der Parallelstruktur zwischen der 68er Bewegung und den ernüchterten, weil für deren Revolte zu "alten" Freunden Simons. Auch wenn sie es im Leben zu etwas gebracht haben, haben sie den "Puer aeternus" in sich nicht ablegen können. In "Der Kreis" mag sich darüber zwar etwas die Altersmüdigkeit gelegt haben, doch Simon hat sich eine Ungebärdigkeit des Erinnerns bewahrt, die sich nostalgischer Wehmut verweigert. In einem zunehmend freier sprudelnden, kraftvollen Erzählsog umspielt Boesch die ewige Unruhe zwischen Erinnerung und Gegenwart, zwischen Fernsucht und Heimweh, welche durch die raue
Bergwelt hervorgerufen wird.

Drei Kreisbewegungen beschreiben die drei Simon-Mittler-Romane: der kreiselnde Sog in die Tiefe der Angst, der Bannkreis zur Abwehr vor äusseren Anfechtungen, am Ende das musikalische Rondo als "Zeichen der Wiederkehr, auch der ‘ewigen Wiederkehr’", wie Hans Boesch 1999 schrieb. Obwohl unabhängig voneinander, sind die drei Romane auf ebenso kunstvolle wie unaufdringliche Weise miteinander verflochten. Die elementaren Motive Wasser, Raum und Zeit, denen je eines der Bücher gewidmet ist, werden in einem feinen Netz von Korrespondenzen aufgehoben. Dergestalt stellt sich Hans Boeschs Trilogie "wie selbstverständlich" (Hermann Wallmann) neben die anderen grossen Romanzyklen der europäischen Gegenwartsliteratur.

DER KREIS, roman, Nagel & Kimche, Zürich 1998.

 

www.culturactif.ch