Die beste aller Welten

Charles-Albert Cingria war die wohl schillerndste und kosmopolitischste Figur der Westschweizer Literatur in den dreissiger Jahren. Der begnadete Chronist und radelnde Weltenbummler italofranzösisch-levantinischer Herkunft lebte in Nordafrika, Paris, Rom, Siena, in der Provence und in Genf und war mit Cocteau, Tzsara, Cendrars und Modigliani befreundet, der ihn zeichnete. Viel gelesen wurden damals Cingrias Reise-chroniken, etwa "L'Eau de la dixième miliaire", ein kulturhistorischer Spaziergang durch Rom, und seine 1929 entstandene musikwissenschaftliche Schrift "La Civilisation de St. Gall". Dieser Essay, in dem der passionierte Orgelspieler die Geheimnisse der gregorianischen Chormusik entschlüsselte, besitzt heute noch Referenzcharakter.

Fasziniert von Cingrias mehrfacher Begabung wollte Jean Paulhan das gesamte Werk seines für die "Nouvelle Revue Française" (NRF) schreibenden Freundes bei Gallimard unterbringen, doch André Gide, damals einer der wichtigsten Autoren des Hauses, legte sein Veto ein. Dem zeitweise mit dem Kommunismus sympathisierenden Gide missfiel die realitätsferne Ironie in Cingrias Essays, mit denen sich der Schweizer gerne ausserhalb der ideologischen Grabenkämpfe seiner Zeit positionierte. Gide sollte sich schliesslich durchsetzen. Als Cingria 1945 starb, war bei Gallimard 1948 lediglich "Bois sec, bois vert" erschienen, eine Sammlung kurzer Reiseberichte.

In diesem Frühjahr nun kam es zu einer kaum mehr erwarteten Rehabilitation : Gallimard edierte Cingrias nachgelassenen Prosatext "La Grande Ourse", die Chronik einer Reise durch die Schweiz, die zuletzt in der Bodmeriana in Cologny bei Genf aufbewahrt wurde. Das Manuskript könnte zwischen 1927 und 1929 entstanden sein, denn das Fragmentarische, scheinbar Absichtslose und auch seine Mehrstimmigkeit erinnern an Cingrias erste Bücher "Les Autobiographies de Brunon Pomposo" (1929) und "Pendeloques Alpestres" (1928).

Rasante sprachliche Kurven und Sprünge, coups de théâtre und ein wenig Mystik machen aus diesen lose aneinander gereihten, zumeist zehn- bis zwanzigzeiligen Erinnerungen eines Promeneur solitaire sprachliche Graffiti par excellence. Cingria sei ein Vorläufer gewesen, befand der französische Literaturwissenschafter Gérard Genette einmal. In den dreissiger Jahren habe Cingria bereits das moderne literarische "Talking" der Neunziger praktiziert. Einmal erinnert sich Cingria, wie er als Kind einen langen Nagel verschluckte und der Arzt ihm sagte, aus ihm werde ein berühmter Mann. Dann berichtet er dass sein Bruder jeweils seine Armbanduhr verlor, wenn er im Sumpf nach Schlangen suchte. Surreal witzig und wehmütig zugleich verbindet das Erzählte immer wieder die Erinnerung an die Versprechungen einer behüteten Kindheit mit Cingrias prekärer materieller Situation nach dem Verlust des grossen elterlichen Vermögens. Wie ein Zauberer zieht er Personen aus dem Ärmel und lässt sie nach ein paar Zeilen wieder verschwinden : Die Bäuerin, die um ihren Hund trauert, der Cingria auf dem Velo immer nach den Beinen schnappte, oder den fröhlichen Lokomotivführer in Romanshorn, der glaubt jeden Tag in die weite Welt hinauszufahren, und dennoch, im Unterschied zu Cingria, jeden Abend in die heile Welt einer Familie zurückfindet. Doch immer, wenn sich Cingria jenseits des Leids begibt, wenn er etwa Gerüche und Töne einer Sommernacht am Ufer des Bodensees beschreibt, wird die Möglichkeit eines Einsseins des Menschen mit sich selbst zu einer für alle Verluste entschädigenden, erreichbaren Utopie. "La Grande Ourse" erscheint so als Eingang in ein Dichterleben, in dem sich Cingria als jener universale Geist zeigen wird, der das Wunderbare des Alltags aufleuchten liess und gleichzeitig - als frommer Katholik - keinen Augenblick daran zweifelte, dass die Welt als göttliche Schöpfung etwas anderes als eine wohlgeordnete Einheit sein könnte.

Michael Wirth

Charles-Albert Cingria : La Grande Ourse. Gallimard, Paris 2000. 94 S., fFr. 72.-


03.08.2000

 

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