„Hat Heimat für Sie eine Flagge?“
"Lieben Sie jemand?
Überzeugt Sie ihre Selbstkritik
Möchten Sie Ihre Frau sein?
Wissen Sie in der Regel, was Sie hoffen?
Haben Sie Humor, wenn Sie allein sind?
Fürchten Sie sich vor den Armen?
Halten Sie sich für einen guten Freund?"

„Hat Heimat für Sie eine Flagge?“
Rückblick auf Max Frisch (1911-1991)


Seine Fragen waren berühmt und berüchtigt. Mit lakonischer Schärfe gerade ihrer Beiläufigkeit wegen hat Max Frisch immer wieder nach dem Selbstverständlichsten gefragt.

Keiner ist vor jenen „vorzeitigen Versöhnungen“ gefeit, die der Querulant Ludwig Hohl als Zeichen für die Schweizer Oberflächlichkeit bezeichnet hat. Erst recht nicht Max Frisch. Zehn Jahre nach seinem Tod am 4. April 1991 gehören seine Sätze und Assprüche zum Zitatenschatz von Schweizer Politikern aller Couleur. Er, der einst als Landesverräter gebrandmarkt und fichiert wurde, geniesst heute allseits Wertschätzung. Wessen ich nicht Herr werde, den nehme ich zum Freund?

In dieser Unbestrittenheit mag eine Tragik liegen, zugleich ist sie wohl auch Zeichen eines veränderten Bewusstseins. Gerade das Fehlen einer Stimme wie derjenigen von Max Frisch macht die Langeweile und Unschärfe im politischen Heimatdiskurs spürbar. Mit seinen ebenso träfen wie treffenden Formulierungen hat Frisch wie kaum ein anderer die helvetischen Verhältnisse auf den Schmerzpunkt zu bringen vermocht. Wir erinnern uns an Sätze wie: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen“ (1965). Wer möchte heute dagegen opponieren. Noch in einem Brief an Marco Solari zwei Wochen vor seinem Tod hat Frisch, die eingeschwärzte Fiche vor Augen, die Formel vom „Verfassungs-Verrat als eidgenössischer Alltag“ geprägt.

Ihren perfekten, weil lakonischsten Ausdruck hat Max Frischs scharfsinnige Kritik an seiner Schweizer Heimat in Form von Fragebögen gefunden. Zahlreiche davon sind in sein „Tagebuch 1966-1971“ eingefügt.* „Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?“ Oder: „Hat Heimat für Sie eine Flagge?“

Antworten darauf gibt Frisch keine, sie interessieren ihn nicht. In der Frage selbst steckt die Provokation; er weiss sie mit tückischer Präzision zu stellen. Immer wieder hat Frisch so die Öffentlichkeit geichsam einem „Verhör“ unterzogen, seine Leser und Leserinnen zu Bekenntnissen, doch nicht zu voreiligen Gewissheiten herausgefordert.

Solange Max Frisch gefragt hat, ist er für viele ein Ärgernis gewesen: ein Sündenbock für die eigenen Ängste, Zweifel und Unsicherheiten. „Wilhelm Tell für die Schule“ (1970), Das „Dienstbüchlein“ (1974) und „Schweiz ohne Armee? Ein Palaver“ (1989) stehen nebst zahlreichen Reden und Essays für diese herausfordernde Seite in seinem Werk. Seitdem er aber schweigt, wird er selbst von seinen alten Gegnern schmerzlich vermisst. „Welche Hoffnungen haben Sie aufgegeben?“

Die ausgeprägte und kontroverse gesellschaftliche Rolle, die Frisch vorab seit den sechziger Jahren gespielt hat, darf freilich nicht darüber hinweg täuschen, dass sie ihm nicht von Beginn weg aufgetragen war und dass sie ihm oft auch nicht behagte.

In seinem ersten „Tagebuch 1946-1949“ findet sich der Satz: „Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man sich zu seinem Denken, das bestenfalls für den Standort stimmt, da es sich erzeugt ... Schreiben heisst: sich selber lesen.“

Bekennen, zu sich selber. Von dieser Definition des eigenen Schreibens ausgehend kann Max Frisch, spitz formuliert, auch als politischer Autor wider Willen bezeichnet werden. Weil er zu seinem Denken stand und es öffentlich kundtat, wo er es für wichtig erachtete, wurde ihm eine Rolle aufgedrungen, die er nicht unbedingt suchte. Sich selber lesen heisst bei ihm zuerst sich als bürgerliches Individuum mit all seinen Wünschen und Nöten erkennen und verteidigen. Dies ist der Grundton vornehmlich des prosaischen Werkes. Geschrieben in der unbescholtenen deutschen Sprache des „neutralen“ Schweizers, ermöglichte er es, dass Frisch nach 1945 vor allem auch in Deutschland reüssieren konnte.

Herkunft und frühe Jahre deuteten freilich nicht auf einen solchen Durchbruch hin. Am 15. Mai 1911 als Sohn eines Architekten geboren, wählte Max Frisch zuerst den väterlichen Beruf. Die frühen literarischen Versuche blieben weitgehend unbeachtet. Der junge Schreiber und Aktivdienstler war getragen von einem naiven Glauben an die Eidgenossenschaft mit ihren Eckpfeilern Demokratie, Neutralität und Armee („Blätter aus dem Brotsack“, 1940).

Der Erfolg stellte sich mit den beiden grossen Romanen „Stiller“ (1954) und „Homo Faber“ (1957) sowie dem 1955 als Hörspiel und 1958 als Stück erschienenen „Biedermann und die Brandstifter“ ein.

„Stiller“ und „Homo Faber“ sind komplementäre Romane, die den Aufbau beziehungsweise Abbau einer (falschen) Identität thematisieren. Vordergründig bringen sie die grossen Themen von Individualität, Entfremdung, ehelichem Zusammenleben, psychischer Not und Tod ins Spiel. Das bürgerliche Individuum, das im Falle Stillers zugleich Künstler ist, sucht sich im Getriebe des Lebens zu verwirklichen und darüber hinaus die hoch fliegenden Wünsche einzufangen.

Das Politische in Frischs Werken ist stets auch eine öffentliche Lesart gewesen, die sich über das Künstlerische hinwegsetzt. Gegenüber dem Bühnenerfolg „Andorra“ (1961), dieser eindrücklichen Parabel über den Wunsch nach Sündenböcken, zog Frisch selbst das (Lieblings-)Drama „Graf Öderland“ (1951) vor, weil dieses nicht auf die Parabel verengt werde, sondern das ganze Spektrum zwischen „Privatem“, „Direkt-Politischem“ und „Spuk“ öffne.

An seinem Rivalen und Freund Frisch hat Friedrich Dürrenmatt besonders fasziniert, wie er von seinen persönlichen Eindrücken ausgegangen sei: „Er konnte Dinge erzählen und beschreiben, die er erlebte, und sie unmittelbar umsetzen in seinem Werk“. Demnach könnte das eigene Leben als Schlüssel zum Werk dienen. Die umfangreichen beiden Tagebücher belegen diesen Schluss. Doch Vorsicht ist geboten.

Die gesellschaftlichen Möglichkeiten sind es, die die persönlichen Lebensgeschichten und -möglichkeiten beschränken: demnach auch die menschliche Freiheit. „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält“, oder eine Reihe von Geschichten, die namentlich und zeitlich belegt nicht zu bezweifeln sind. Dieses Interview-Zitat von 1961 kehrt beinahe wörtlich im Roman „Mein Name sei Gantenbein“ (1964) wieder - als programmatischer Kern dessen, was im Titel des drei Jahre später erschienenen Stückes ablesbar ist: „Biographie: Ein Spiel“. Der Konjunktiv als Bekenntnis zum fragmentarischen Lebensentwurf, zugleich als „Verweigerung gegenüber dem Bestehenden“.

Das Politische in Frischs Werken ist stets auch eine öffentliche Lesart gewesen, die sich über das Künstlerische hinwegsetzt. Gegenüber dem Bühnenerfolg „Andorra“ (1961), dieser eindrücklichen Parabel über den Wunsch nach Sündenböcken, zog Frisch selbst das (Lieblings-)Drama „Graf Öderland“ (1951) vor, weil dieses nicht auf die Parabel verengt werde, sondern das ganze Spektrum zwischen „Privatem“, „Direkt-Politischem“ und „Spuk“ öffne.

An seinem Rivalen und Freund Frisch hat Friedrich Dürrenmatt besonders fasziniert, wie er von seinen persönlichen Eindrücken ausgegangen sei: „Er konnte Dinge erzählen und beschreiben, die er erlebte, und sie unmittelbar umsetzen in seinem Werk“. Demnach könnte das eigene Leben als Schlüssel zum Werk dienen. Die umfangreichen beiden Tagebücher belegen diesen Schluss. Doch Vorsicht ist geboten.

Die gesellschaftlichen Möglichkeiten sind es, die die persönlichen Lebensgeschichten und -möglichkeiten beschränken: demnach auch die menschliche Freiheit. „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält“, oder eine Reihe von Geschichten, die namentlich und zeitlich belegt nicht zu bezweifeln sind. Dieses Interview-Zitat von 1961 kehrt beinahe wörtlich im Roman „Mein Name sei Gantenbein“ (1964) wieder - als programmatischer Kern dessen, was im Titel des drei Jahre später erschienenen Stückes ablesbar ist: „Biographie: Ein Spiel“. Der Konjunktiv als Bekenntnis zum fragmentarischen Lebensentwurf, zugleich als „Verweigerung gegenüber dem Bestehenden“.

Max Frisch hat immer Ich gesagt. In seinen grossen Erzählwerken, zuletzt in der autobiographischen Lebensbilanz „Montauk“ (1974), wie in seinen öffentlichen Interventionen. Dafür ist er mit Kritik und Observierung bedacht worden, was ihn wiederum zorniger und hoffnungsloser, aber auch zusehends pointierter gemacht hat. In „Der Mensch erscheint im Holozän“ (1979) zeichnet er ein verzweifeltes Endzeitbild - als ob es Abschied von einer verfehlten Existenz zu nehmen gälte.

Doch aus Anlass seines 75. Geburtstages sprach er 1986 an den Solothurner Literaturtagen: „Mein Eindruck: - man möchte nicht wissen, sondern glauben. Zum Beispiel an Sachzwänge“. „Am Ende der Aufklärung steht das Goldene Kalb“ war diese eindrückliche Dankesrede überschrieben. Noch einmal hat sich der Alte als radikaler als seine zahm gewordenen Jünger erwiesen. Deshalb fehlt er heute. Es fragt sich bloss, ob ihm die aktuellen Diskussionen auch behagen würden.

Beat Mazenauer

NB: Die Fragebögen sind 1998 gesondert in einem Suhrkamp-Taschenbuch erschienen.