"Zur Mündung. 37 Geschichten von Leben und Tod"
Träume kann man manchmal flicken

Der Kabarettist und Autor Franz Hohler hat drei grosse Stärken: er schaut genau, ist schnell bekümmert und heitert sich und uns auf mit dem Blick hinter die Wirklichkeitskulisse.

Wie sähe der Frieden aus, wenn er ein Mensch wäre ? Kann man Träume reparieren ? Warum ist ein nackter Mann interessanter als der Kölner Dom ? Und warum darf der Bub aus Ex-Jugoslawien keinen Panzer auf sein Kindergarten-Täschli malen ? In seinem neuen Erzählband " Zur Mündung " enthält sich Hohler wie immer alleinseligmachender Antworten. Hinweisen ist sein Ehrgeiz.

Das Geisterreich...

Nur manchmal treibt es ihn fort. Dann phantasiert er dem Elend der Welt Hintertürchen ins Geisterreich des Möglichen: Da werden die Halluzinationen eines Sterbenden wahr, da bekommt eine Bassisten-Witwe musikalische Nachricht vom verstorbenen Mann, da gibt es plötzlich Firmen, die Alpträume flicken.

Uns harmoniesüchtigen Lesern sind diese Geschichten die liebsten. Doch eingedenk der brutalen Realität enthält uns Hohler in seinem neuen Buch diese tranquilisierenden Pointen meist. Die Balkankriege beschäftigen ihn, Alltagstrauer und -nöte einheimischer und immigrierter Menschen, historische Versündigung an Völkern.

Selten löst die Zeit dle Probleme selber: etwa wenn der österreichische Kardinal Innitzer, der einst seinen Schäfchen den Nationalsozialismus wärmstens empfahl, posthum in einem Käfig unter dem Stephansdom lagert.

... und andere Heilmittel

"37 Geschichten von Leben und Tod" lautet der Untertitel des Buchs. Gleich die einleitende Titelerzählung desillusioniert metaphorisch die Vorstellung vom Tod als Eingangstor zu einer höheren Wirklichkeit: Der Fluss Glatt, dem der Autor bis "Zur Mündung" folgt, wird vom Rhein nicht einfach und natürlich aufgenommen; eine Audienz im Kraftwerk, der " Sommerresidenz für Königin Elektra", ist vorgeschaltet.
Diese besänftigende Darstellung des vorenthaltenen Zusammenflusses ist natürlich ironisch gemeint. Oft aber - und das stört an manchen Geschichten - eskapiert der von der Wirklichkeit Enttäuschte ins ach so heile Reich der Natur. In die Berge meist. Mitunter auch einfach ans Fenster, wo Wiese, Hügel, Bäume, Gewässer, Tiere und Wetter ihm das Fernsehprogramm ersetzen.

Sisch alles chli z'nätt

Nicht jeder hat das Glück, an so bevorzugter Lage zu wohnen. Die wenigsten werden zudem - wie Hohler - in Grosstädte und Kriegsgebiete eingeladen, um aus einem Buch zu lesen. Und so fit wie der Dichter, der sogar die Eigernordwand schafft, werden auch nicht viele sein.

Hohler schreibt aus einer privilegierten Position und vergisst das trotz seinem gigantischen Mitgefühl für alles und jeden manchmal. Und wenn er sich rühmt, in Flüelen nur einem Menschen zu kennen, nämlich einen kleinen Jungen von dem er nur weiss "Kosovo ja, Mutter nein, Vater nein", da wirkt das fast ein bisschen billig. Hinschauen genügt halt nicht immer.

Franz Hohler, "Zur Mündung ", Luchterhand Literaturverlag München, 2000. 122 Seiten, Fr. 29.40

Besprechung von Irene Widmer
Schweizer Feuilleton-Dienst

 

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