Aristophanes' Erfindung der Schweiz

Was ist das nun? Eine politische Rede? Eine Erzählung? Es ist beides und also etwas Drittes. Thomas Hürlimann trug den folgenden Text Ende Oktober an einer Tagung über die Schweiz als Utopie vor. Er spricht das an, was zurzeit alle Schweizer beschäftigt. Aber er tut es so, wie es noch niemand getan hat

2.Dezember 1991, Thornwood im Staat New York Es regnet seit Tagen, es regnet in Strömen. O., das Aupairmädchen aus der Schweiz, steht am Fenster und glotzt in die nasse Welt hinaus. Kristie, das Baby, schreit immer noch. O. soll es hüten, aber nichts kann den Schreihals beruhigen, draussen pladdert der Regen, und Baby Kristie kräht, so geht es seit Tagen, seit ihrer Ankunft in Thornwood. Hie und da ein Strassenkreuzer, nur selten ein Mensch, fast immer mit Hund. O. hasst diese Strasse, die Allee, die Einfamilienhäuser, alle weiss, alle aus Holz, nicht ganz ungefährlich, würde ihr Vati sagen, zu viel brennbares Material. Vati kennt sich in solchen Dingen aus - zu Hause, in Wettingen, steht sein Feuerwehrhelm griffbereit auf der Hutablage, und in der Garderobe, gleich neben der Tür, hängt stets die schwarze, einen brandigen Geruch ausströmende Uniform. O. verbietet es sich, schon wieder auf die Uhr zu schauen, nichts scheint hier aufhören zu wollen, alles zieht sich in die Länge: der Regen, der Nachmittag, die Reihe der weissen Häuser, das Weinen von Baby Kristie und unten im Keller die Wäscheleine mit den tropfenden Windeln. Fishers, die Eltern von Baby Kristie, würden erst gegen Abend nach Hause kommen, beide mit braunen Papiertüten im Arm, Lebensmittel darin, Fertiggerichte, O. wird pummeliger von Tag zu Tag. Es prasselt jetzt. Und das Baby schreit, schreit lauter als je, schreit wie am Spiess. Im Spiegel der Fensterscheibe lächelt ein pausbäckiges Gesicht. Riecht es nicht nach Feuer? O ja, aber sie liebt diesen Geruch. Manchmal hing er am Morgen, wenn die kleine O. aufgestanden war, im Flur und im Badezimmer. Dann wusste sie: Es hatte in der Nacht wieder gebrannt, und ihr Vati, der Feuerwehrmann, war in seiner Uniform ausgerückt, um das Feuer zu löschen. Das Prasseln wird zum Knistern, aus dem Kinderbettchen quillt Rauch, jetzt ein Knall, ein Krosen, doch nach wie vor lächelt die in der Scheibe gespiegelte O. ihr pausbäckiges Lächeln. Baby Kristie hat sich endlich beruhigt.

Schön, wenn man Flügel hat. Sie sind nützlich und süss. Beispielsweise im Theater. Sollte das Trauerspiel zäh, dein Magen aber hungrig sein, fliegst du rasch nach Hause, nimmst dort ein Frühstück, dann flatterst du vollgestopft auf deinen Platz zurück. Und hast du Lust zum Scheissen, brauchst du es nicht ins Hemd zu schwitzen, drücks einfach raus und lass es fallen, als Vogel brauchst du kein Örtchen, dir gehört der ganze Himmel. Ja, schön, wenn man Flügel hat. Und ein Schnäbelchen! Kaum ist der Mann deiner Liebsten ausgeflogen, schwirrst du zu ihr, um sie kräftig durchzuvögeln, epopoi popopoo popopoi, io io ito, io io ito! Was Sie eben gehört haben, stammt aus der Feder von Aristophanes, des frechsten und lustigsten Theatervogels der Geschichte. Goethe hat ihn den "ungezogenen Liebling der Grazien" genannt, Hugo von Hofmannsthal stellte ihn über Shakespeare und Mozart. Aristophanes überflog alle Grenzen, auch die des guten Geschmacks, auch die der Zeit - bis auf den heutigen Tag ist jede seiner Figuren, jede seiner Szenen so frisch, dass ihr die zweieinhalb Jahrtausende niemand anmerkt. Seine wohl berühmteste Komödie, "Die Vögel", wurde im März 414 vor Christus uraufgeführt, mitten im Krieg. Ein Jahr zuvor hatte Athen den sizilianischen Feldzug begonnen. Es wollte endlich Sparta überflügeln und den ganzen Mittelmeerraum unter seine Fittiche nehmen. Alkibiades jedoch, der grosse Stratege, war zu Hause in Händel, Intrigen und Prozesse verwickelt, weshalb sein Feldzug mehr und mehr ins Stocken geriet. Da brachte Aristophanes "Die Vögel" heraus. Hoffegut und Ratefreund, zwei athenische Bürger, haben von ihrer Vaterstadt genug. Sie wandern zu den Vögeln aus, setzen Flügel an, allerdings nur leibliche, keine geistigen, ihr Denken bleibt athenisch. So reden sie den Vögeln ein, eine Luftstadt zu bauen, um von dort aus über die Götter und die Menschen zu herrschen. Schnatternd fliegen die Vögel auf den Vorschlag der zwei Athener herein, und siehe da, der Plan gelingt, die Luftstadt entsteht. Sie wird von unüberwindlichen Mauern aus Vogelkot geschützt, heisst Wolkenkuckucksheim und schwimmt, eine Art antiker Arteplage, ziemlich genau zwischen den Menschen (unten) und den Göttern (oben).

1907 erscheint in Heidelberg die Schrift eines jungen Psychiaters: "Heimweh und Verbrechen". Darin stellt der Autor, Karl Jaspers, auf Grund von Fallbeispielen die These auf, dass Mägde und Knechte, die sich an fremden Orten verdingen mussten, auffällig oft zu Brandstiftern wurden. In allen Fällen, schreibt Jaspers, hatten sie vom ersten Tag an heftiges Heimweh und begingen die Tat, wie einige von ihnen aussagten, um "heimgehen zu können". Indem sie das ihnen anvertraute Kind, das Haus, den Hof oder das Vieh verbrannten, glaubten sie den Grund für ihre Anwesenheit in der fremden Welt eliminiert zu haben. Vermutlich hatte dieser Wahn in alten Söldnerzeiten seinen Ursprung; mit jedem Hof und jedem Dorf, das man mordbrennend und brandschatzend zerstört hatte, war die Heimkehr näher gerückt. Doch dürfen wir im Verbrennen der Fremde nicht nur einen Akt der Vernichtung sehen - für den Schweizer ist der Feuerstoss das heiligste Heimatzeichen. Auf den Altären des Vaterlandes, wie Gottfried Keller die Berge nennt, wird seit Urväterzeiten das Höhenfeuer entfacht, weshalb die Mägde und Knechte, die die Stätte ihres Exils anzündeten, zugleich ein Stück Heimat schufen. Sie wollten das Höhenfeuer ins Flachland herabholen. Indem sie Brände legten, haben sie Heimat gestiftet.

White Plains, ein New Yorker Vorort, am 7.Juli 1992. Der Prozess dauert nun schon sechseinhalb lange, schrecklich heisse Wochen, und Tag für Tag, Stunde für Stunde wird von Baby Kristie gesprochen, von Thornwood, von den Menschen, die sie, O., draussen auf der Strasse vorbeigehen sah, meist mit Hund. Was hat sie an jenem Nachmittag gemacht, fragt jetzt zum hundertsten Mal der Staatsanwalt. In den Regen geschaut, antwortet Laura Brevetti, ihre Anwältin, zu den Geschworenen hinüber. Nur in den Regen geschaut, bohrt der Staatsanwalt weiter. Nein, meint Misses Brevetti, wiederum an die Jury gewandt, als es zu brennen anfing, rief O. die Feuerwehr. Hört die Jury überhaupt zu? Trotz der surrenden Klimaanlagen und Tischpropeller ist es drückend heiss, Fernsehlampen strahlen, die Polizistin, die O. bewacht, hat Flecken unter den Achseln, und dem Richter, Mister Silverman, glitzert der Schweiss auf Stirn und Nasenrücken. Manchmal lächelt er O. zu. Vor ihm liegt eine verrusste Dose - Farbverdünner. Damit waren Baby Kristies Windeln besprüht worden, was beweist, dass das arme Kindchen vorsätzlich angezündet wurde. Seine Eltern, die Fishers, sitzen im Publikum, aber wenn O. versucht, nach hinten zu schauen und ihnen zuzunicken - das hat ihr die Anwältin aufgetragen - blickt Misses Fisher sofort weg. Sie ist toll gekleidet. Schwarz, findet O., steht der schlanken Dame besonders gut. Auch O.s Eltern sitzen im Saal. Sie haben reservierte Plätze, werden immer wieder gefilmt, jede Reaktion, hat ihnen die Anwältin erklärt, kann Folgen haben, gute oder schlechte. Jetzt legt Misses Brevetti ihre schlanke, sonnengebräunte Hand auf O.s Unterarm. Im Gefängnis hat sie eine ungesunde, fleischkäsige Haut bekommen, wer weiss, ob man sie in Wettingen noch erkennt. Aber wird sie es jemals wieder sehen, ihr Zuhause? Guilty, hat der Staatsanwalt soeben gesagt, schuldig. Er will sie für mindestens 25 Jahre ins Gefängnis stecken. 25 Jahre, mein Gott, dann wäre sie 46, wenn sie herauskäme, eine alte, verbrauchte Frau! In ihren Augen steckt ein klebriges Weinen und zwischen den runden, viel zu fetten Wangen ein schmerzendes Lächeln. 25 Jahre. Sie würde nie ein Baby bekommen. Was nicht aufhört, heisst Amerika. Regnet es, regnet es ewig, die schwüle Hitze bleibt hocken, und Babys, die einmal zu plärren angefangen haben, plärren den ganzen Tag. Aber auch Misses Brevetti, die Anwältin, zieht ihre Rede in eine unerträgliche Länge, kaut alles nochmal durch, die Windeln und Kristies Schreie, die im Qualm ersticken. Irgendwann erheben sich alle, auch O., auch ihre Eltern, und der nette Mister Silverman erklärt der Jury, nun habe sie über den Rest des Lebens einer noch sehr jungen Frau zu entscheiden. O. begreift: Diese Frau bin ich. Aber hat man ihr Mister Silvermans Schlusssatz richtig übersetzt? Hat er tatsächlich vom Rest gesprochen? Ein rascher Blick über die linke Achsel, wieder schaut die schöne Misses Fisher weg, und ihre Eltern, als würden sie in Wettingen in der Kirche sitzen, schauen starr nach vorn, zum Pult des Richters.

Wie Aristophanes die Schweiz erfand? Ganz einfach: Indem er sich an die Athener Querelen hielt. Die stadtstaatliche Demokratie, von sich ausschliessenden Interessen gebeutelt, war damals ausser Stande, ein sie existenziell gefährdendes Problem zu lösen. Weder wurde der sizilianische Feldzug abgebrochen, noch unternahm man den Versuch, ihn mit allen Mitteln zu gewinnen. Sollen wir uns öffnen? Sollen wir uns mit Sizilien, fernen Kolonien, also der weiten Welt verbinden? Oder wäre es klüger, auf die wirtschaftlichen Vorteile dieser Strategie zu verzichten und das überschaubare, demokratisch verwaltete Stadt- und Staatswesen zu bleiben? So lautete die Frage. Und alles blieb in der Schwebe, im wahren Sinn des Wortes, der attische Kleinstaat hatte den sicheren Boden verloren, er war ins Gleiten gekommen, er wurde sich selber zum Fall. Da hatte Aristophanes seine geniale Idee. Er nahm die Athener beim Wort, und zwar beide Parteien: die, die die engen Grenzen bewahren, und die, die sie schleifen wollten. Hoffegut und Ratefreund verlassen ihre Stadt, dringen in den Luftraum ein und besorgen sich Flügel. Für die Athener war sofort klar, was damit gemeint war: Aristophanes verulkte den sizilianischen Feldzug als hochfliegenden Plan, eine allzu ferne Welt zu erobern. Zugleich jedoch - und das ist wirklich und wahrhaftig ein Geniestreich! - verhöhnte der Komödiendichter die andere Partei, die Athen- und Grenzbewahrer. Denn Hoffegut und Ratefreund, die beiden Neu-Vögel, fühlen sich in der Vogelfreiheit nicht wohl, der Luftraum, finden sie, habe a) nichts Heimeliges und bringe b) keinen Profit. Um dem abzuhelfen, schaffen sie gemeinsam mit den Vögeln einen Vogelstaat, das Wolkenkuckucksheim, und natürlich gleicht dieses Supra-Athen mit hohen Stadtmauern, einem Katasteramt, schrecklich krähenden Heimatdichtern und einer Zollstation, die den Opferrauch nur gegen eine Mautgebühr von den Menschen (unten) zu den Göttern (oben) passieren lässt, haargenau jenem überschaubaren, demokratisch verwalteten Stadt- und Staatswesen, das die Anti-Europa-Partei unbedingt erhalten wollte. Die Literaturgeschichte (ich will es nicht verschweigen) ist der Meinung, Aristophanes habe seine Stoffe frei erfunden. Ein Blick in die Athener Geschichte zeigt jedoch, dass seine Stücke ganz und gar aus dem Material bestehen, in dem der Dichter gewohnt hat. Das gilt besonders für "Die Vögel". Während Aristophanes an dieser Komödie schrieb, verhockte die Stadt im Patt. Athen oder Europa, das war die Frage. Also liess Aristophanes die beiden Flügel, die den Staatskörper zu zerreissen drohten, in seinem Stück zum Ziel kommen - ja, beide Flügel: Der grosse Ausflug in die weite Luft hinaus endet im mauerumschlossenen Wolkenkuckucksheim. Hoffegut und Ratefreund, dürfen wir bilanzieren, sind schwirrend ausgeschwärmt, um sich hinter Mauern aus Vogelkot einzuschliessen. Fürwahr, das hat Witz, Pfiff und Pfeffer. Und für uns Schweizer ist es das Stück der Stunde, schliesslich sind wir, abgesehen von der Europa-Frage, nicht einmal in der Lage, ein vermeintlich überschaubares Projekt wie die Expo aus dem Patt herauszuholen - fast täglich pfeifen die Parteipräsidenten-Spatzen von den Dächern, sie seien entschieden dafür, dass die Landesausstellung sowohl stattfindet als auch abgebrochen wird. Sicher, in solch geflügelten Worten pflegt man nicht nur in Neutralien zu reden, das ist das internationale lo-io-ito des Politvogels in der Mediendemokratie. Trotzdem stellt sich die Frage, ob mit der Persiflage derartiger Vogeleien der zeitenüberfliegende Welterfolg des Aristophanes erklärt werden kann. Nein, natürlich nicht. Diese Luftkomödie hat die Athener Querelen überdauert, weil sie zu den tiefsten Gründen einer menschlichen Gemeinschaft vorgestossen ist.

Park Avenue, New York, am 9.Juli 1992. Was nicht aufhört, heisst Amerika, scheint die Sonne, scheint sie ewig, die Strassenschluchten mit ihren Lichtfäden verlieren sich im Dunst, der Abendverkehr rauscht und tost. Misses Brevetti, die Anwältin, und ihre Eltern strahlen vor Freude: not guilty. Die Jury hat sie in allen Anklagepunkten freigesprochen. Wieder rast eine Sirene vorüber, ein Feuerwehrwagen, hier in der Nähe, erklärt die Brevetti, befinde sich ein grosses Depot. Aha, macht O. Vati, die weltberühmte New Yorker Feuerwehr! Brandbekämpfung im Hochhaus! Sie fahren jetzt die Park Avenue hinauf, der Schweizer Generalkonsul hat O. eingeladen, um ihr persönlich zu gratulieren. Das Feuerwehrhorn entfernt sich downtown. Gott sei Dank, ihr Wagen hat getönte Scheiben, sie liegen in einer Ledergarnitur, und der Nacken des Chauffeurs, der durch eine Scheibe von ihnen getrennt ist, glänzt vor satter Kraft. Er könnte O. beschützen. Sie hat es sich verboten, doch ist es wie ein Zwang, wieder muss sie nach hinten blicken, über die Schulter - das gelbe Taxi mit dem schnauzbärtigen Fahrer folgt ihnen immer noch. Was will man von ihr? Warum lässt man sie nicht in Ruhe? Not guilty. Nicht schuldig. Sie hat schliesslich die Feuerwehr alarmiert. Und vor allem: Sie hat kein Motiv gehabt. Deshalb wurde sie freigesprochen. Der Wagen hält, O. steigt aus, starrt zu den Türmen hinauf, sieht den Doorman kommen, einen Herrn im grauen Frack mit grauem Zylinder, kann aber trotzdem erkennen, dass auch das Taxi gehalten hat. Im Fond sitzt eine schlanke Frau. Misses Fisher? O. lächelt. Morgen, denkt sie, morgen wird alles vorbei sein. Morgen fliegt sie in die Schweiz zurück. Morgen kehrt sie heim.

In der deutschsprachigen Schweizer Literatur wird ein Werk nur dann berühmt, wenn es den Heimgeher ins Zentrum stellt. Zum ersten Mal geschieht das in der wildschönen Urfassung des "Grünen Heinrich", denn schon mit der mythischen Rhein- und Zollpassage, also mit der Ausfahrt, beginnt jener Weg, der in einer einzigen Kreisbewegung durch die Welt in die Vaterstadt zurück- und heimführt. Dort stolpert der grüne Heinrich in den Begräbniszug seiner Mutter hinein. Sie starb am Kummer über den ausgeflogenen, in der Fremde verschwundenen Sohn, muss er hören. Dies kann sein wundes Herz nicht verkraften, es bricht. So lässt er "den Himmel jener Jahre in der blauen, wolkenreichen Höhe vorüberziehen" - der grüne Heinrich hat sich auf dem stillen Kirchhof zu Vater und Mutter ins Grab gelegt. Auch Stiller kehrt heim, die bekannteste Romanfigur von Max Frisch, heim in die Gefangenschaft einer Identitätskrise, und heim kehrt auch Friedrich Dürrenmatts alte Dame, anders als der grüne Heinrich jedoch, der unmittelbar vor seiner Rückkehr in eine Feuerwehrübung gerät, sodass er, zumindest in der Erstfassung, "durchnässt" und "abgelöscht" aus ihr hervorgeht, vermögen Stiller und die alte Dame einen Rest von Feuer in die Heimat zurückzutragen. Stiller, der nicht mehr Stiller sein will, brennt seinem Land eine Art Erkennungsmarke ins gemütliche Fell, und Claire Zachanassian, übrigens eine geborene Kläri Wäscher, löscht die eigene Vergangenheit und den ehemaligen Liebhaber aus, indem sie Güllen in eine Leuchte des Reichtums verwandelt. "Nacht bleibe fern", betet zum Schluss der Chor, "verdunkele nimmermehr unsere Stadt." Noch feuriger endet Frischs "Biedermann und die Brandstifter". Alles fliegt in die Luft, verzehrt sich in Flammen - und so, zeigen Entwürfe, sollte ursprünglich auch der letzte Roman von Gottfried Keller schliessen, "Martin Salander". Er erzählt ebenfalls ein Heimgänger-Schicksal. Salander war sieben Jahre in der Fremde und hat nun grösste Mühe, sich in der veränderten Vaterstadt zu orientieren. Alles ist anders geworden, gleich geblieben sind nur die Menschen, der Spekulant, der Salander ausser Landes getrieben hat, betrügt ihn ein zweites Mal. Eine todtraurige, altersbittere Geschichte, und ich finde es jammerschade, dass Keller auf das flagrante Finale, das ihm ursprünglich vorschwebte, schliesslich doch verzichtet hat. Sämtliche Spekulanten und ihre "Raubgeschäfte" sollten in einer Feuersbrunst untergehen, auf dass von der ersehnten, aber niemals zu verwirklichenden Heimat nur ein Höhenfeuer bleibe, die heilige, reine Flamme.

Indem Aristophanes in die Luft geht, habe ich behauptet, stösst er zu den Gründen der menschlichen Gemeinschaft vor. Und wieder, wie mit den beiden Parteien, die er keck in eins setzt, gelingt ihm eine Art Doppelschlag - Aristophanes, scheint es, fliegt in der Vogelkomödie konsequent mit zwei Flügeln. Meine lieben guten Athener, sagt er zum einen, ihr hängt in eurem Wolkenkuckucksheim in der Luft, und vergesst bitte nicht: Der Kuckuck hat unter allen Vögeln das gebrochenste Verhältnis zu seinem Nest. Deshalb ist er seit je das Wappentier der Gerichtsvollzieher. Klebt er an der Tür, muss man die Bude räumen. Hast du verstanden, Wolkenkuckucksheim Athen? Wenn du in der Schwebe bleibst, wirst du ins Bodenlose fallen. Du löst dich in Luft auf. Der Letzte löscht das Licht. Aber Aristophanes sagt auch - und das ist wohl das Tiefste, das diese Luftkomödie aussagt: Ohne Flügel geht es nicht. Ou-topos heisst: kein Ort, nirgendwo. Kein Ort, müssen wir betonen, keine Fixierung im Geografischen, und das heisst ja wohl, dass über dem Räumlichen und dem Zeitlichen noch ein anderes Land liegt, überzeitlich und überörtlich, ein Land des Geistes, der Ideen, der Phantasie. Vogelland. Flügelwelt. Und was, ihr lieben Athener, habt ihr daraus gemacht? Eine Zollstation. Ein Katasteramt. Eine mauerumschlossene, sich selbst genügende Händlerstadt, die sich von schrecklichen Poeten besingen lässt. Ihr habt das Athener Denken in den Himmel verlegt und ihn dadurch mit Scheisse verbaut. Ja, meine lieben Landsleute (sagt Aristophanes), unser armes geliebtes schönes Athen löst sich in Luft auf, weil es seine Himmelsinszenierung im Realpolitischen gelöscht hat. Es kann den Traum von sich selbst nicht mehr träumen. Statt einen Vogel zu haben, Athener, seid ihr Vögel geworden: Federvieh. Dumm ist nur, dass das spatzenhirnige Beharren auf der Realpolitik zum totalen Stillstand führt. Wer aufhört zu träumen, gibt seinem Schlaf etwas Tödliches. Was nur noch ist, kann nicht mehr werden.

O., die nach Amerika flatterte, um sich in eine weltgewandte junge Dame zu verwandeln, liegt im Wettinger Wohnzimmer vor dem Fernseher und knabbert Nüsschen und Chips. Ist es so? Ich weiss es nicht. Ich habe keine Ahnung, was aus O. wurde, wie es ihr geht, wie sie lebt, was sie macht, aber ich kann mir vorstellen, dass sie die Wohnung nur selten verlässt. Und dass sie unentwegt Nüsschen pickt, Nüsschen und Chips. Unmerklich zieht sich der Nachmittag in den Abend hinein. Im Fernsehen läuft nun das Baby-Programm - Pingu, der befrackte Eisvogel, watschelt aus dem Iglu, fällt auf den Schnabel, watschelt weiter. Dann bringt Vogel-TV die neuesten Nachrichten von der Expo. Zwei Wasservögel - Vogel Fendt, ehemalige Schwimm-Meisterin, ehemalige Reederei-Managerin, sowie Vogel Rist, der schon im Vornamen das Wasser lässt: Pipi-Lotti - wollen die Landesausstellung auf drei Seen verlegen. Da schreit das Feuerland natürlich auf, Feuer fürchtet das Wasser, weshalb Vogel Felix, ein alternder Unterhaltungspfau, radschlagend den Rat gibt, die Heimat in der Bratwurst zu ehren. So möchte er das heilige Heimatzeichen retten: im glühenden Grillrost. Unsere Vaterlandsliebe hat eine feurige Sache zu bleiben. Die Höhenfeuer sollen unter den Bratwürsten weiterbrennen. Schaut O., die sich am Baby der Fishers ihre Flügel verbrannte, noch zu? Versteht sie überhaupt, was via Vogel-TV in ihr Wohnzimmer flimmert? Ich weiss es nicht. Ich habe keine Ahnung, wie sie mit ihrem Ausflug in die grosse weite Welt fertig wurde und ob sie das Buch, das Joyce Egginton über sie schrieb, jemals gelesen hat. Joyce Egginton nahm seinerzeit am Prozess teil und hörte den Freudenjauchzer von O.s Mutter, als die Sprecherin der Jury den Freispruch verkündete: kein Motiv. Ein Fehlurteil, dachte Joyce Egginton, folgte O. nach New York, später in die Schweiz, von Kloten nach Wettingen, und dort geschahs. Die freiwillige Feuerwehr holte O., die freigesprochene Tochter ihres Kameraden, vom Bahnhof ab, um sie im Triumphzug nach Hause zu führen. Da hatte die Egginton, wie sie schreibt, den sichtbaren Beweis, dass zwischen O. und dem Feuer eine geheime Beziehung bestand. Kein Motiv? Die Journalistin blieb im Land, sah am ersten August die Höhenfeuer lodern und stiess schliesslich auf Karl Jaspers "Heimat und Verbrechen". Beide Bücher, das von Jaspers und das von Joyce Eddington, die Jaspers These übernimmt, sprechen die Freigesprochene schuldig. Es ist eine schuldlose Schuld, denn was kann O., die Nanny aus dem Schweizer Mittelland, dafür, dass ausgerechnet in ihr ein uralter Mythos noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, mordbrennend aufgeflammt ist? Wie gesagt: Ich weiss nichts von dieser Frau, aber ich stelle mir vor, wie sie auf der Couch der Wettinger Mietwohnung liegt, wie sie auf den flackernden Schirm glotzt, wie sie, noch immer knabbernd, eine neue Tüte Chips aufreisst. Draussen regnet es in Strömen, wie damals in Thornwood, in der Gegend vom Mount Pleasant, wo sie das Baby der Fishers gehütet hat. Ihre Eltern würden erst gegen sieben nach Hause kommen, beide mit Einkaufstüten, Lebensmittel darin, Fertiggerichte, ihre Tochter hat Hunger, das Vögelchen muss gefüttert werden. Ob es in der Nacht wieder gebrannt hat? Jedenfalls riecht Vatis Uniform, die wie stets in der Garderobe hängt, gleich neben der Tür, brandig nach Rauch. Der Regen pladdert auf die blechbeschlagenen Simse, und wäre sie nicht zu müde und ein bisschen zu schwer, könnte O. ans Fenster treten und hinunterblicken auf die graue Strasse. Hie und da ein Auto, nur selten ein Mensch, fast immer mit Hund. In allen Wohnungen flackert jetzt der Fernsehschirm. Irgendwo kräht ein Baby. O. zerpickt ihre Nüsschen. Was nicht aufhört, glost weiter.

Thomas Hürlimann

Texte publié dans le Tages-Anzeiger
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