Werkstatt
Quellen zivilisatorischer Irrungen freilegen

Philippe Jaccottets Widerstand gegen den Nihilismus

Der Westschweizer Dichter Philippe Jaccottet gehört zu den wichtigsten französischsprachigen Lyrikern der Generation, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck der grossen Katastrophe zu dichten anfing. Einer Gruppe oder Strömung hat er nie angehört. Sein Ziel war und ist, den schwachen Lichtschein in der Poesie aufblitzen zu sehen, der ihm tröstend bewusst machte: Die Erde ist bewohnbar; Poesie ist möglich - trotz allem. Am 30. Juni wird Jaccottet, der seit 1953 in Grignan (Drôme) wohnt, 75 Jahre alt.

Der kurze, steile, gepflasterte Weg, der von der Mauer des Schlosses zu dem Haus hinunterführt, ist mit Gras überwachsen. Mandelbäume aus tiefer gelegenen Gärten breiten Zweige bis an den Weg aus. Ihre kräftigen Blüten scheinen die Helligkeit der warmen Nachmittagssonne noch verstärken zu wollen, obwohl es doch erst Anfang März ist. Um diese frühen Frühlingsnachmittage kann man die Menschen in der Provence beneiden. Fensterloses, ockerfarbenes Gemäuer, so alt wie der mittelalterliche Ort selbst. An der Tür des Hauses am Ende des Wegs steht der Name auf einem Zettel, der im lauen Luftzug flattert. Immer wenn Philippe Jaccottet Besuch erwartet, heftet er den Zettel an. Sonst legt er Wert auf seine Zurückgezogenheit. Ein Dichterleben in der Provence: Natur, das tägliche Schreiben und die Geschichte in harmonischem Einklang. Nein, als ästhetische Existenz empfinde er sich deshalb noch lange nicht, winkt Jaccottet amüsiert ab. Dass er mit seiner Frau, der Malerin Anne-Marie Haesler, 1953 aus Paris nach Grignan in der Drôme gezogen sei, habe damit zu tun gehabt, dass man den Pariser Literaten- und Künstlermilieus entfliehen wollte; ausserdem gab es handfeste materielle Gründe. Das Leben ist für einen Dichter nur auf dem Lande erschwinglich.

Kunst der kleinen Schritte

Mit Übersetzen wurde das Notwendige verdient. Aus fünf Sprachen hat Jaccottet grosse Texte der Weltliteratur ins Französische übertragen. Thomas Mann, Plato, Ungaretti, Gongora, Hölderlin, Rilke, Musil, Mandelstam, später dann Ingeborg Bachmann und Adolf Muschg. Eine Heimstatt wurden ihm alle diese Autoren; die Konflikte mancher Romanfigur waren auch die Jaccottets. Seine Prosasammlung «Eléments d'un songe» (1961) ist in dieser Hinsicht auch eine Reflexion über die Unmittelbarkeit des Anstosses, den der Dichter braucht, vielleicht etwas mehr braucht als der Romancier. Jaccottet legt dort dar, was ihn beim Übersetzen von Musils «Mann ohne Eigenschaften» bewegt hat und dann Nährboden seines eigenen Schreibens geworden ist. Etwa, dass Ulrich nicht länger ein Mann ohne Eigenschaften sein, aber auch keiner mit Eigenschaften werden will. Musil, dieser Verächter poetischer Flügelschläge, knüpfe hier an die grosse weltliche Mystik der kleinen Schritte an: die Kunst, Regeln zu akzeptieren - zwischen Mann und Frau, aber auch im Gebrauch der Sprache. Das ist nahe an dem, was Rilke den «Weltinnenraum» nennt, in dem er zwar noch nicht gemachte Erfahrungen sucht, aber ohne die Realität aus den Augen zu verlieren. Wenn dies gelingt, sagt Jaccottet, mag etwas Licht ins Leben strömen und eine menschenwürdige Existenz möglich werden.

«La lumière» - Licht und Helligkeit kommen in Philippe Jaccottets Lyrik in unzähligen Variationen vor, nicht selten verbunden mit der Vorstellung, die Erde gebe etwas zu «lesen». «La terre tout entière visible / mesurable / pleine de temps // suspendue à une plume qui monte / de plus en plus lumineuse», heisst es in der Sammlung «Airs», mit der sich Jaccottet nach einem mehrjährigen Verlust des Vertrauens in die Möglichkeiten der Poesie Anfang der sechziger Jahre wieder zurückmeldete. Dieses Licht zu sehen heisst, in der Einzigartigkeit einer Pflanze, eines Insekts ein Gefühl der Beglückung zu erfahren. Hier ist der Einfluss der Vorbilder und Freunde Gustave Roud und Francis Ponge zu spüren. Auch bei anderen Dichtern interessiert Jaccottet die Botschaft der Erde: «La terre parle», schreibt er über Gedichte Paul Claudels in seinem Essay «L'Entretien desMuses».

«Was wüssten wir von dem Licht, stünden hier nicht diese Pappeln im März, es zu empfangen und sich damit zu erhellen? Später, mit ihren Blättern werden sie mir den Wind entdecken», zitiert Jaccottet aus einem poème en prose des Bandes «La Promenade sous les Arbres» (1957). Heute horchen vor allem jüngere Dichter wieder auf die sprechende Natur. Doch reicht das angesichts des Elends in der Welt? Auf diese Frage mit Nein antworten zu müssen, hat Jaccottet Ende der fünfziger Jahre in die Krise gestürzt. Auch Adornos Wort, dass Lyrik nach Auschwitz unmöglich sei, habe damals lähmend gewirkt. Heute weiss er, dass er nie die Kampfeskraft eines poète engagé gehabt hätte. Die Poesie hat nicht die Möglichkeit, die Dinge kurzfristig zu ändern, sagt Jaccottet. Doch könne sie, fügt er mit einem Blick auf Mandelstam und Celan an, die Wunde offen halten, die der persönliche Verlust an Menschenwürde geschlagen habe.

Mehr als nur Trost

Seit einigen Jahren flieht Philippe Jaccottet in den Sommermonaten in ein einsames Landhaus unweit von Grignan. Die Zahl der Touristen in den Gässchen des kleinen Ortes steigt von Jahr zu Jahr. Der Macht des aus Paris in seine Heimat zurückgekehrten Bürgermeisters, welcher beschlossen hat, aus Grignan einen veritablen Ferienort zu machen, die Strassen neu pflastern und Parkplätze bauen lässt, ist mit Worten nicht beizukommen, meint Jaccottet melancholisch schmunzelnd. Der Dichter sucht sich die Menschen aus, mit denen er verkehrt. Jetzt freut er sich auf den Besuch seiner deutschen Übersetzer Elisabeth Edl und Wolfgang Matz Anfang April. Gemeinsam wollen sie die Übersetzung des Bandes «Cahier de verdure» (1990) vorbereiten, die im kommenden Spätherbst bei Hanser erscheinen soll. Es sind einmal mehr Auseinandersetzungen in Prosa und Versen mit der Landschaft der Drôme, der unmittelbaren Umgebung, dem Alltag.

Jaccottet hält auch in diesem späten Werk der Reife Phänomene der Natur nicht einfach nur fest, sondern macht sie zu Trägern des Gefühls von Fülle und Mangel. Doch immer ist in einer Blume, in einem grün leuchtenden Blatt mehr als nur ein Trost zu spüren. Vielmehr lesen wir darin Spuren des Göttlichen - nicht im religiösen, absoluten Sinn, fügt Jaccottet schnell hinzu, als sei das Wort «divin» zu unbedacht gewählt, sondern als Entgegnung auf jegliche Form des Nihilismus, aber auch auf alle möglichen Formen des offenen Kampfes gegen die Zustände dieser Welt.

Carnets

Die neuerliche intensive Lektüre früherer Bände mahnt Jaccottet zur Vorsicht. Die meisten Dichter, Goethe ausgenommen, hätten ihre grossen Werke bis zum fünfzigsten, spätestens sechzigsten Lebensjahr geschrieben. Diese Erkenntnis hemme die Arbeit am Alterswerk. Die Gefahr, sich zu wiederholen und hinter den eigenen Anspruch zurückzufallen, lauere unerbittlich für ihn hinter jeder Anfrage seines Verlages Gallimard. Im Spätsommer legt er dort einen weiteren Band mit Notizen vor, aus der Zeit zwischen 1995 und 1998. Diese Carnets enthalten flüchtig hingeworfene Skizzen, Gedanken, Eindrücke. Spiegelungen, Schatten, Verse und Prosa, zwar auf ihre Haltbarkeit hin geprüft, aber ihrer Unmittelbarkeit wegen doch nicht in eine Form gepresst, zeugen vom Willen, das Beobachten in Bewegung zu halten.

Eigentlich stand der Lyriker Philippe Jaccottet immer über den Formen und Genres. Indem er sie aufeinander abzustimmen weiss, schafft er eine wesentliche Voraussetzung, um die Sucht unserer Zeit nach dem Absoluten freizulegen, dieser Quelle aller zivilisatorischen Aberrationen.

Michael Wirth

FEUILLETON Mittwoch, 17.05.2000

 

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