Solothurner Literaturpreis 2003
Hanna Johansen

Der Solothurner Literaturpreis für das Jahr 2003 wird an Hanna Johansen verliehen. Die 1939 in Bremen geborene, seit 1972 in Kilchberg bei Zürich lebende Autorin und Übersetzerin wird damit für ihr beeindruckendes Gesamtwerk ausgezeichnet. Der Preis ist mit 20 000 Franken dotiert.

Inihrer Begründung hebt die Jury die kunstvolle Einfachheit hervor, mit der Hanna Johansen Leser und Leserinnen allen Alters in Bann zu ziehen vermag. Im Werk dieser Autorin sind die herkömmlichen Grenzen zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur nicht auszumachen. Ihre Kinderbücher und ihre Prosa für Erwachsene zeichnen sich durch erzählerischen und stilistischen Formenreichtum aus. Mit inhaltlicher Präzision und bewundernswerter Einfühlungskraft berichtet Hanna Johansen von Menschen (und Tieren), die das Staunen und Fragen nicht verlernt haben. „Der Normalfall ist das Unbegreifliche“. Dieser Satz könnte als Motto über Hanna Johansens Schaffen stehen. In der Wahrnehmung ihrer Erzählerinnen bleibt die Zeit stehen, verwandeln sich Menschen in unbekannte Wesen, erwachen Räume zu neuem Leben, entwickeln Erinnerungen eine gefährliche Sogwirkung und öffnen sich Abgründe innerhalb von Beziehungen. Nach ihren ersten zwei Büchern „Die stehende Uhr“ (1978) und „Trocadero“ (1980), die sich durch experimentelle Formgebung auszeichnen, gestaltete der Roman „Die Analphabetin“ (1982) die unbegreifliche Normalität aus der Sicht eines 5-jährigen Mädchens, das unter den Bomben des Krieges mit kindlicher Unbefangenheit registriert, wie die Erwachsenen lügen und verstummen. Es kann, es will nicht verstehen, woran diese sich wortreich gewöhnen. Konsequent hält Johansen hier die Perspektive des Kindes ein, das vor den Zumutungen der Erwachsenen lieber bei Tieren Zuflucht sucht. Diese Konsequenz zeichnet einzigartig auch ihre Kinderbücher aus, deren erstes, „Bruder Bär und Schwester Bär“, 1983 erschien. Hanna Johansen verrät nie die kindliche Logik, und ihre Tierfiguren bleiben ungeachtet aller menschlichen Züge stets Tiere, deren Verhaltsweisen den Menschen auch rätselhaft bleiben. „Felis, Felis“ (1987), die hinreissende Geschichte eines Katers, ist längst ein Klassiker der Kinderliteratur wie auch der Band „Dinosaurier gibt es nicht“ (1992), der soeben mit „’Omps!’. Ein Dinosaurier zu viel“ eine fulminante Fortsetzung erhalten hat. Von der „Analphabetin“ lässt sich über zwei Jahrzehnte hinweg ein Bogen zum Buch „Lena“ (2002) schlagen. Es ist dies die behutsame Erzählung einer alten Frau, die sich unausweichlich in ihrem kreisenden, lähmenden Erinnern verstrickt. Zwischen diesen beiden Angelpunkten hat Johansen insgesamt acht längere und kürzere Prosawerke veröffentlicht, in denen sie Frauen auf der Suche nach einem eigenen, besseren Leben beschreibt, befreit von den gesellschaftlichen Rollenzwängen. Dabei versteht sie es, mit feiner Ironie die von Klischees durchsetzte Beziehung zwischen Mann und Frau zu hinterfragen, in der meisterhaften „Kurnovelle“ (1994) ebenso wie in der opulenten „Universalgeschichte der Monogamie“ (1997). Hanna Johansen ist eine geistreiche und witzige Erzählerin. Sie erzählt von den menschlichen Erfahrungen, welche in Zeiten des Werdens und Vergehens Narben auf der Seele hinterlassen. Sie tut dies humorvoll und immer mit grosser Liebe zu ihren Figuren.

 

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