Le Déserteur engagé - Hugo Loetscher auf französisch

"Wenn Gott ein Schweizer gewesen wäre und zugewartet hätte, gäbe es nicht nur die Welt nicht, sondern auch die Schweiz nicht": Hugo Loetschers ironischer Aphorismus über das Zögern und Zuwarten als helvetische Lebens- und Eigenart stammt zwar aus seinem bereits in den achtziger Jahren entstandenen Band gesammelter Zeitungsglossen "Der Waschküchenschlüssel oder Was - wenn Gott Schweizer wäre", kein anderes Stück Literatur ist allerdings besser geeignet, Salz in die Wunde der derzeitigen Identitätskrise des Landes zu streuen. Die Westschweizer Truppe Théâtre du Sentier hat Loetschers kurze, von Gilbert Musy brillant ins Französische übertragene satirische Zeitungsgeschichtchen zum Sonderfall Schweiz dramatisiert und zeigte "Si Dieu était Suisse" (Fayard 1991) in einer Inszenierung von Anne-Marie Delbart in der ersten Oktoberwoche im Théâtre Vidy-Lausanne. Loetschers ebenso liebevoll amüsante wie ätzende Satire hat in diesen Monaten in der Westschweiz Hochkonjunktur. Kaum ein Festival dieses Sommers am Genfersee, welches "Si Dieu était Suisse" nicht zeigte.

In einem riesigen, leeren goldenen Bilderrahmen, leicht erhöht auf einem Podest stehend, bläst ein authentischer Schweizer (Claude Thebert) geranienschwenkend zum Sturm auf die idyllischen Landschaften kollektiven helvetischen Bewusstseins. Phantasielosigkeit und Verbote sind es zumeist, die aufs Korn genommen werden: Zur Karnevalszeit ist es verboten, maskiert eine Bank zu betreten, und auf einem Zürcher Postamt darf man eben nicht wie in Brasilien um die Paketgebühr feilschen.

Strandbäder und Abwässer

Die Kritik am Deutschschweizer Establishment hat in der Romandie immer schon ein dankbares Publikum gefunden, vor allem, wenn sie so subtil ist wie die Loetschers. Das kam auch der französischen Übersetzung seiner jüngsten Prosa, des Strandbadromans "Saison", in diesem Frühjahr zugute, der die Westschweizer Kritik einen freundlicheren Empfang bereitete als die deutschschweizerische. Dass man in der Westschweiz bereit ist, hinter der sozialkritischen Perspektive einzelner Werke Loetschers auch eine politische zu vermuten, zeigte in diesem Frühjahr die gelungene Dramatisierung von Loetschers Romanerstling "Abwässer. Ein Gutachten" aus dem Jahre 1963 (1985 in französischer Übersetzung bei L'Age d'Homme erschienen) durch die Freiburger Theatertruppe Pasquier/Rossier. Der Text des Gutachtens, das ein Kanalinspektor nach dem Umsturz der neuen Regierung über seine Tätigkeit gibt, wurde von Geneviève Pasquier als opportunistische Andienung des alten Kanalinspektors an die neuen Machthaber inszeniert, während die Rezeption in den sechziger Jahren in den "Egouts" die Metapher des moralischen "Schmutzes" erkannte, der Korruption etwa, von der sich die Gesellschaft befreien will.

In nur acht Jahren, zwischen 1989 und 1997, wurde Loetschers Werk nahezu vollständig ins Französische übersetzt. Den Anfang machte 1989 der autobiographische Roman "Der Immune ", der die Genese und Selbstbehauptung eines Intellektuellen gegen familiäre Gewalt und soziale Entfremdung beschreibt. Der Verlag Belfond hat den kongenialen Titel "Le Déserteur engagé" gefunden, der die Ambivalenz des Intellektuellen - er engagiert sich, indem er die Realität denkend verändern will, gleichzeitig flieht er sie aber- thematisiert. Ein idealer Einstieg für die französische Leserschaft, die sich zum einen mit Sartres Begriff des "Engagement" auseinandergesetzt hatte und zum anderen im Immunen auch eine Gegenfigur an Voltaires Candide erkannte. Candide sucht die menschliche Gesellschaft, weil er nicht viel weiss; der Immune meidet sie, weil er zu viel weiss.

Umweg über Paris

Vom grossen Erfolg des "Déserteur engagé" in Frankreich - die erste Auflage war innerhalb weniger Monate vergriffen - ging eine ungeahnte Sogwirkung aus. In schneller Reihenfolge publizierten die französischen Verlage Belfond und Fayard nun weitere Loetscher-Titel. Auf "La Tresseuse de couronnes" (Fayard 1992, "Die Kranzflechterin") und "Les Papiers du déserteur engagé" (Belfond 1992, "Die Papiere des Immunen") folgten "Un automne dans la Grosse Orange" (Fayard 1993, "Herbst in der Grossen Orange"), "Le Coq prêcheur " (Fayard 1994, "Der predigende Hahn") und "La Mouche et la Soupe" (Fayard 1995, "Die Fliege und die Suppe"). Die Franzosen erkennen in Loetschers Themen auch ihre eigene Kulturgeschichte wieder : rousseauistische Züge etwa trägt die "Kranzflechterin" Anna, die sich, von ihrem Verlobten verlassen, ganz ihrem Schicksal fügt und sich im Vertrauen auf ein spätes Glück gegen die Schläge des Lebens durch das Binden von Totenkränzen immunisiert. An die Fabeln La Fontaines erinnert die Art, wie Loetscher - heute eine Seltenheit - in "La Mouche et la Soupe" und in "Le Coq prêcheur" Tieren eine menschliche Verhaltensweise und Psychologie zuerkennt und an ihnen zeigt, wie der Mensch die Gesetze der Natur nach seinen Bedürfnissen beugt. Bezeichnenderweise gelangte "La Mouche et la Soupe" vor zwei Jahren zur Feier des 300. Todestages von La Fontaine in die französischen und Westschweizer Buchhandlungen.

Mit den meisten französischen Intellektuellen teilt Loetscher zweifellos auch die Ablehnung des Einflusses der USA auf die europäische Kultur. So schätzte der französische Kritiker Alain Bosquet im "Figaro littéraire" an Loetschers Bericht über seinen Aufenthalt in Los Angeles, "Un automne dans la Grosse Orange", die eindrückliche Entlarvung perfider Schönheit: "des Grases, das zu grün, eines Himmels, der zu blau, und des Lächelns, das zu perfekt ist um glaubhaft zu sein". -Die Welle der Begeisterung, die das Erscheinen von Loetschers Büchern in Frankreich auslöste, schwappt seit einem Jahr auch auf die Westschweiz über. Erneut erwies sich der Umweg über Pariser Verlage als unabdingbare Voraussetzung, damit das Werk eines Deutschschweizer Autors auch in der Romandie gelesen wird. Die Rezeption der Literatur über die Schweizer Sprachgrenzen hinweg bleibt trotz massiver institutioneller Förderung ein rätselhaftes, unbefriedigendes Terrain.

Die Westschweizer Literaturzeitschrift "Le Passe-Muraille" widmete Hugo Loetscher im Marz 1997 eine Sondernummer mit Beiträgen von Friedrich Dürrenmatt, Iso Camartin u. a. Sie kann angefordert werden bei: Le Passe-Muraille, case postale 1164, 1001 Lausanne. Tel. 021/72815 87

Michael Wirth

17.10.1997

 

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