Das Paradies ist ein Kreuz
"Brandzauber" heisst der neue Roman von Mariella Mehr. Wie schon der Titel anzeigt, schreibt die streitbare Autorin jene Geschichte fort, deren Fäden ihr bisheriges Werk gespannt haben. Die Zigeunerschlampe passt abermals nicht ins Bild gutbügerlicher Wohlanständigkeit, weshalb sie gebessert werden muss.
"Daskind versucht, vom Kummer zu leben. Es wird gut daran tun, sich darin einzurichten", heisst es Mehrs Roman "Daskind" von 1995. Für seine Stummheit und Verstocktheit hat die Autorin eine impulsive und zugleich spröde, oft ins grammatische Stammeln verfallende Sprache gefunden. An ihr gemessen wirkt der neue Roman "Brandzauber" auf Anhieb eher konventionell. Ja die präzisen Beobachtungen aus der Perspektive von Anna, seiner Protagonistin, strahlen anfänglich gar so etwas wie Gelassenheit aus. Anna arbeitet als Heiltherapeutin in einem Kurhaus in den Alpen und führt ein unauffälliges Leben. Einzig ihre Faszination für fleischfressende Pflanzen wirkt etwas ungewöhnlich, lässt erahnen, dass die äussere Ruhe über Tieferliegendes hinwegtäuscht. Immer wieder drängen sich denn auch Erinnerungen an Prügel in die Gegenwart hinein, die Anna immer weniger abzuwehren vermag.
Der neue Roman von Mariella Mehr vermeidet auf den ersten Blick die sprachliche Gereiztheit von "Daskind". Einzig der Wechsel zwischen erster und dritter Erzählperspektive sorgt für etwas Irritation. Die Autorin beobachtet Anna von aussen und gibt ihr zwischendurch selbst das Wort. Gerade dieses Schwanken zwischen Sie-Anna und Ich-Anna reisst das Geschehen aber zusehends auf und verdüstert die vordergründige Gelassenheit auch sprachlich, je mehr sich die Erinnerungen darin verfangen. Insbesondere jene an ihre Jugendfreundin Franziska. Noch Jahrzehnte später "fühlte sich Anna von den Franziskawörtern erfunden". Gemeinsam haben sie damals in christlichen Internaten ein gottesfürchtiges Regime erlitten: "Die Schwestern trugen Silberkreuze. Sie schlugen mit Ochsenziemern." Mit der Ankunft einer neuen Kurpatientin, in der Anna unwillkürlich Franziska wiederzuerkennen glaubt, werden die alten Schemen aufs neue erweckt. Und der verdrängte Furor spiegelt sich auch in der Sprache.
In "Brandzauber" holt Mehr abermals das Thema ein, das ihre bisherigen Bücher gezeichnet hat. Anna ist ein Kind von Fahrenden, das 1944 im Rahmen der Aktion "Kinder der Landstrasse" den Eltern entrissen und in schweizerische Pflege gegeben wurde. Schliesslich landete Anna in einem Heim, wo sie Franziska kennen lernte: ein Judenkind, das von seinen Eltern förmlich über die Grenzzäune hinweg in die Freiheit geworfen wurde. Wenigstens es sollte im helvetischen Rettungsboot überleben, derweil jene keinen Einlass erhielten und ins Dritte Reich zurückgeschickt wurden.
Anna und Franziska zogen gleich doppelt die Vorurteile auf sich. Zigeuner klauen, huren und saufen, Juden ziehen den braven Schweizern das Geld aus dem Sack. Schlimmer aber noch ist der Heiland von den Juden verraten und mit einem Hufnagel ans Kreuz geschlagen worden, den ein fahrender Kesselschmid den Römern verkaufte - erzählt die Legende untrüglich. Gemeinsam standen Anna und Franziska unter diesem Kreuz der Schuld, "unserem Zeichen", und trugen es doch auf gegensätzliche Weise. Diese nahm es ergeben auf sich und lieferte sich ganz den inneren Stimmen und Bildern aus; jene dagegen wehrte sich mit allen Mitteln - allen! Wie schon "Daskind".
Der Preis, den Anna dafür bezahlt, ist ein unvergänglicher Hass und zugleich eine tief sitzende Illusionslosigkeit, die sie nichts mehr hoffen lässt. Die "Vögel der Freiheit", die der Berliner Dichter Günter Bruno Fuchs einst so schön besungen hat, weil sie frech "die Zäune verwerfen" und über die Ordnung hinwegfliegen, sind für sie bloss Zeichen einer verlogenen Freiheit, die es gar nicht gibt. Deshalb übt Anna gerade an den Vögeln Rache. "Schliesslich tat sie dem Vogel nur, was man Menschen auch antat..."
"Brandzauber" führt zwei Stränge schweizerischer Vergangenheit zusammen, die beide ihre Quelle in der Angst vor Andersartigkeit, vor "Überfremdung" haben. Der oberflächlich geglättete Brand schwelt untergründig weiter: in der Metaphorik vom Kreuz und in Annas grausamen Ritualen. Formal wirkt "Brandzauber" zwar etwas weniger aufreizend, provokativ als "Daskind", dafür verdrängt der Roman heimtückisch die Tiefenschichten des Erinnerten auch stilistisch. Wie sie schliesslich dennoch an der Oberfläche aufbrechen, geschieht es in konzentrierter Häufung. Für Beschönigungen scheint es keinen Platz mehr zu geben. Dieser sprachliche Kraftakt mag mitunter etwas erzwungen unverblümt und grausam wirken, er antwortet immerhin auf den Zusammenbruch im Gedächtnis Annas, das sich bis zur bitteren Leere austobt. An diesem Ende verkehrt sich auch das erzählerische Wechselspiel zwischen Ich- und Sie-Rede ins Gegenteil: das Ich ist (sich) fremd geworden, nur die Erzählerin lindert die Note mit ihrem Mitgefühl, ihrer Nähe.
Diese täuscht allerdings nicht darüber hinweg, dass in diesem Roman eine ungestillte Wut steckt, die nicht nur von unbewältigten Konflikten herrührt. Noch nicht lange her ist Mariella Mehr in Chur bedroht und zusammengeschlagen worden. Spätestens dies signalisiert, dass die alten Konflikte offenbar noch nicht bewältigt, verarbeitet sind. Nicht nur bei Mariella Mehr, die sie wenigstens kreativ in ein beklemmendes Buch übersetzt hat.
Brandzauber. Roman, Nagel & Kimche, Zürich 1998.
Beat Mazenauer