Der Wille der Geschichte
Niklaus Meienbergs "Naturgeschichte eines Clans"
Wieviel aristokratischen Geist und wieviel feudales Gehabe erträgt die direkte Demokratie? Stets von neuem stellt sich diese Frage bei der Lektüre von Niklaus Meienbergs neuestem Buch "Die Welt als Wille & Wahn. Elemente zur Naturgeschichte eines Clans". In jahrelanger Arbeit spürte der Autor der Geschichte der Familie Wille, einem weitverzweigten Familienclan, nach. Bereits dessen Erstabdruck in der "Weltwoche" im letzten Sommer hat ein reges Interesse erweckt, meist zustimmend, seltener nur ablehnend.
Ulrich Wille I (1848-1925), der Schweizer General während des Ersten Weltkrieges und oberster Verantwortlicher für den militärischen Truppeneinsatz gegen streikende Arbeiter 1918 in Genf, stellt zweifellos eine bedeutende Person von hohem öffentlichem, historischem Interesse vor. Deshalb erstaunt es umso mehr, dass seine Geschichte bislang noch weitgehend ungeschrieben geblieben ist. Um das eher heroisch-karikaturistische Image, das ihm weitherum noch immer anhaftet, unter allen Umständen zu wahren, hält die Familie Wille nach wie vor wichtiges und unentbehrliches Quellenmaterial unter Verschluss und treibt so, in Meienbergs Sprache, "Geschichtsfälschung durch Quellenverstopfung", der entgegenzuwirken der offiziellen Nationalgeschichte bis heute der Wille, und dem universitären Historikernachwuchs der Mut zum Risiko fehlte. So bedurfte es schon der Beharrlichkeit und des Widerstandsgeistes Meienbergs, um dieses Thema aufzugreifen und dem "Tatzelwurm" Wille, der sich tausendfüssig durch die schweizerisch-deutsche Erb- und Geldaristokratie hindurchwindet, auf die Spur zu kommen. Das Resultat der Bemühungen lässt sich denn auch durchaus sehen. Und es kann schon jetzt gesagt werden, dass "Die Welt als Wille & Wahn" in mehrerer Hinsicht ein she gewichtiges Ereignis darstellt, für die Revision des Wille-Bildes ebenso wie mehr noch für die moderne schweizerische Geschichtsschrei-bung im Allgemeinen.
Meienberg vermittelt ein gänzlich unheroisches Bild des Generals. Ulrich Wille I wird geschildert als ein kaisertreuer, absolut preussisch denkender und auf militärischem Gebiet nur mässig begabter Haudegen, der die Schweiz liebend gerne an der Seite des wilhelminischen Deutschlands in den Krieg gegen das verhasste Frankreich geführt hätte. Weil sich einem solchen Vorhaben die gesamte verweichlichte Politikerkaste aber entgegenstemmte, musste er sich mit verbalen Ausfällen begnügen. Wie in der Armee, so war auch das Regiment zuhause. Das harmonische Familienleben auf den Landsitzen Bocken, Mariafeld und in der Villa Wesendonck war eine Idylle nur für jene, welche sich der Clan-Räson bedingungslos unterordneten. "Wagnerianismus und Pferdekult, Herrenmenschentum und Deutschtümelei, die Tragödien und Komödien nach Gutsherrenart, diese chronische Angst vor den Vaganten und dem rebellierenden Volk in den Fabriken, aus denen man das Geld für den pompösen Lebensstil zog", dies stellte über Generationen hinweg die Art der Willes dar, ihr Leben zu feiern.
Wie der Vater, so erklomm bald auch der Sohn Ulrich II die höchsten Höhen der Militärhierarchie. Leider jedoch scheiterten auch seine noch höherfliegenden Träume an der Politikerkaste, welche statt ihm Henri Guisan zu ihrem General auserkor; nicht zum Schlechtesten wohl für die Schweiz. Denn auch als einer der obersten Landesverteidiger stand Ulrich II stets in bestem Einvernehmen mit seinen preussisch-grossdeutschen Freunden und Verwandten. Jederzeit hat der Wille-Clan der preussischen Offizierskaste und dem mecklenburgischen Landjunkertum mehr vertraut als seinem Volk und dessen demokratisch gewählten Vertretern. Meienberg gibt ein paar beredte Kostproben solcher Politikerverdrossenheit. Auch die Frauen wussten sich durchaus einem solchen Regiment anzupassen. Frau Wille, geborene Bismarck beispielsweise erzog ihre Kinder mit der Reitpeitsche, auf dass das "Gestüt" ja wohl gedeihe und nicht ins Unkraut schiesse. Zu leiden hatten viele: die erst kürzlich als Autorin wiederentdeckte Annemarie Schwarzenbach, das schwächliche, linke schwarze Schaf des rechtschaffenen Clans, oder die ArbeiterInnen in den Fabriken ihres Vaters Alfred Schwarzenbach-Wille, die wenig Lohn, dafür zu Weihnacht ein Bildnis ihres Chefs erhielten. Aufgrund all dieser verwickelten Tatsachen lässt sich gut verstehen, warum die Familie Wille heute die Quellen dazu zurückbehält. Nicht bloss der Lack, sondern das ganze Gebäude von Harmonie und Heldentum drohte daran einzustürzen.
Nun immerhin, auf verschlungenen Wegen hat Niklaus Meienberg einige von diesen Quellen beibringen können. Dies allein aber macht "Die Welt als Wille & Wahn" noch nicht zu einem wichtigen Ereignis für die schweizerische Geschichtsschreibung. Es geht auch nicht primär darum, Meienberg als den grossen Enthüller zu feiern. Denn nicht alles ist neu, was er schreibt, vieles haben verdiente Historiker wie Edgar Bonjour oder Hans Ulrich Jost schon früher in ihren Werken zur Schweizer Geschichte aufgezeichnet. Meienberg greift auf bereits in den Grundzügen Bekanntes zurück, mit dem Unterschied aber, dass er sich nicht einer streng akademischen, und deshalb wohl vielleicht auch etwas trocken-elitären Geschichtsschreibung verpflicht fühlt. Dies macht die Differenz und die Bedeutung dieses Buches aus. Seine Auffassung von Geschichtsschreibung ist das (für die Schweiz) Neue, eine Auffassung, welche die historische Analyse mit der mündlich erzählten "Geschichte von unten", mit Zeitkolorit und subjektiver Wertung zu einem stilistischen Amalgam verdichtet, das höchst anregend zu lesen ist, ohne deswegen auch ungenau zu sein. Meienberg schreibt grosse Geschichte aus episodischen Familiengeschichten, ohne je die wesentlichen formalen Strukturen und historischen Leitideen aus den Augen zu verlieren. In der Familie, im Clan, hat er die Basis für die gesellschaftliche und ökonomische Stärke und Unantastbarkeit der Willes entdeckt: "Ein Clan und seine Möglichkeiten. Interessant, wie abgefedert und wattiert man als Mitglied sein Leben fristen kann; es könnte neidisch werden, wer aus dem Kleinbürgertum stammt." Über ganz Mitteleuropa hin wurden mittels Heiratspolitik, Vetternwirtschaft und handfestem Nachdruck Familien geschmiedet, eine Industrie aufgebaut, öffentliche Ämter übernommen und ein soziales Netz gespannt, welches dafür sorgt, dass keines der Clan-Mitglieder in die Niederungen des Plebs abstürzt, sondern "auch die Schwachbegabten, Erfolglosen, Frühverkalkten noch irgendwo Unterschlupf und ein Pöstchen finden und stets den Namen Wille wie eine Monstranz vor sich hertragen." Der Wille-Clan lebt in einem seelig-feudalen Gefilde hoch über dem ordinören Volk, unangreifbar und unbelangbar selbst für schwerwiegendste Vergehen, etwa Ulrichs II Geheimnisverrat an die Nazis.
Meienberg schreibt mit persönlicher Anteilnahme und nicht frei von Süffisanz, in gewohnter sprachlicher Prägnanz. Doch nie versucht er dies zu verhehlen oder zu kaschieren, er bleibt stets wahrhaftig, wenn auch nicht sklavisch exakt. Sein Verdienst ist es, dass er einen wichtigen Abschnitt der Schweizer Geschichte des 20.Jahrhunderts neu aufgerollt hat, in seiner unprätentiösen, unakademischen, dafür kraftvollen Weise, welche gerade auch jene breiten Bevölkerungsschichten verstehen, die den General noch immer nur verharmlosend als "Schnapswilli" kennen, jene Schichten also, vor den ebendieser Wille und sein Clan so sehr sich fürchtete.
Beat Mazenauer