Der TendenzBär treibt Mummenschanz
Niklaus Meienbergs barocke Lyrik

Vor zehn Jahren merkte der Kritikerpapst Marcel Reich-Ranitzki zu Niklaus Meienbergs erstem dichterischem Wurf, erschienen unter dem Titel "Die Erweite-rung der Pupillen beim Eintritt ins Hochgebirge", stirnrunzelnd an, dass der liederliche Klau von Dichtungen ohne Herkunftsnachweis nicht tolerierbar und, "sagen wir, kriminell" sei: "Denn Betrug ist Betrug."

Doch derlei Verbote können einen Meienberg nicht schrecken, wie seine wuchernde "Geschichte des Liebens und des Liebäugelns" beweist. Mit Witz und Lust bedient er sich weiterhin aus den poetischen Schatztruhen verehrter Dichter, allen voran Apollinaire und Baudelaire. Immerhin (verfing wohl die Ermahnung?) hat er dieses Mal nicht vergessen, seinen Aneignungen und Anzüglichkeiten Hinweise auf die Urheberschaft beizugeben.

Meienberg ist kein gewöhnlicher Dichter, verraten seine Gedichte umgehend, vielmehr ein später Erbe des Manierismus und des Barocks. Wie die alten Dichter schlägt er keine lyrische Gattung und keine emblematische Form aus, sondern hebt sie auf in einer ausschweifenden, sprühenden Sinnlichkeit.

Mal hält er sich an ein ordentliches Vers-Schema, dann spottet er dem ganzen poetologischen Regelwerk und versteift sich auf eine ruckelnde "Reim' dich, oder ich fress' dich-Poeterey", um zuletzt formal eindrucksvoll die strenge Textur zur bildlichen Darstellung eines Bombenabwurfs aufzureissen. Von peini-gendem Liebesleid gebeutelt, lässt der Dichter sich zu schmerzensreichen, pathetischen Klagen hinreissen, um handkehrum wieder Drittpersonen am Narrenseil herunterzulassen (Schoggimeister Sprüngli) und in ein irrlichterndes satyrisches Gelächter auszubrechen. Frei nach Grimmelshausen, präsentiert sich sein Gedichtbändchen wahrhaftig als "ein wercklichs Mischmasch / von lauter Fähl und Mängeln zusammen gestickelt".

Nicht die Befolgung klassischer Normen oder die poetische Luzidität sind dem-nach Meienbergs Sache, aus ganz andern Quellen schöpft er seine Originalität: kaum einer reimt so virtuos aus dem helvetischen Volksvermögen, travestiert und parodiert so frech lyrische Vorbilder, klaut so unverfroren von ihnen und versetzt sie so listig mit zeitgemässen Sprachfloskeln.

Nicht selten bewegt sich Meienberg dabei hart an der Grenze zur telegrammatischen Verserei, womit gemeinhin Tante Frieda und Onkel Otto zum 50. Ehejahr gratuliert wird. Wo immer es ihm beliebt, pendelt er zwischen inkommensurablen Sprachregistern und beugt Hochsprache in ein "hauchdeutsches" Idiom: "Dichter send viel gäbiger / Und auch etwas läbiger". Bei aller vordergründigen Trivialität und Taktlosigkeit bezeugt Meienberg indes ein Feingefühl und eine Subtilität, welche die Kritik gleicherweise be- wie entkräftigt. Das lyrische Stolpern erhebt er zur rhetorischen Figur.

Auf jeden Fall schreckt dieser Dichter vor nichts zurück. Neben das erwähnte Emblemgedicht "General Schwarzkopf befreit Winterthur" setzt er Verse, die er dem klassizistischen Hofdichter Pierre de Ronsard und dessen Metapherngestürm entlieh. Geteiltes Leid verbindet. Vor 450 Jahren hatte dieser mit trefflich ausgefeilten (und grässlich blasierten) "Amours"-Oden sein Liebesunglück lyrisch gebändigt. Auch Meienbergs lyrisches Ich triezt und schurigelt die unbeständige, wankelmütige Liebe.
"De profundis clamavi ad te" steht über den Max Frisch nachgerufenen Zeilen; emphatischer noch ruft es in andern Versen aus der Tiefe der gepeinigten Seele.

"Rue Gît-le-cœur
Wie wagst Du dort zu wohnen
Das stünde mir viel eher zu
Das Herz ist schwer u. meine Ruh
ist hin, ich bin, so kräht der Hahn
leider der Sebastian"

Es macht den Anschein, Meienberg verdichtet nicht die Geschichte irgendeiner, vielmehr die Geschichte DER Liebe zur Klage eines Gebrochenen:

"Muss auf schwanken Stelzen hinken
statt mit beiden Füssen irdisch
freundlich auf dem Boden bleiben
muss mit schwarzer Galle schreiben
bin ein melancholisch Tier"

Meienbergs allegorisches Wappentier ist der Bär, dickfelliger Allesfresser und Einzelgänger, dessen "Pelz tät nie erkalten / Solang die zarten Finger / Sein Leben ringer gschtalten". Freilich fühlt sich das lyrische Ich als "un ours mal léché" (ein schlecht geschlecktes Vieh), mit Heine gesprochen ein "Tendenzbär ... waldursprünglich Sanskülotte", der in Atta Trolls durchs weite Erdenrund hallende Bärenklage miteinstimmt:

"Mumma, Mumma, schwarze Perle,
Die ich in dem Meer des Lebens,
Aufgefischt, im Meer des Lebens,
Hab ich wieder dich verloren!"

Mit dem (vorwiegend) unglücklichen Liebesmotiv verbinden sich andere: Mallarmés trübsinniger Faun (vgl. dazu Bozettos kongeniale Umsetzung in "Allegro non troppo") oder der durch den Pariser Marais streifende Flaneur. Überhaupt stecken Paris und Zürich die Topographie dieser Meienbergschen "Geschichte der Liebe und des Liebäugelns" ab: die Weite und die Enge, die Heimat und das Zuhause. Entsprechend mischen sich (schweizer-)deutsches und französisches Idiom munter miteinander.

Es erstaunt nicht, dass Meienbergs poetologisches Verfahren stellenweise dem allzu Manieristischen verfällt oder zu Plattheiten neigt. Es ist die lässliche Konsequenz einer Dichtung, die selbst im Liebesleid mit einem Auge darauf achtet, was ringsum vor sich geht. Nach Grimms Wörterbuch wird "liebäugeln" auch in der Bedeutung von "schielen" verwendet. In diesem Doppelsinne gelten hier Platens Verse: "trunken bin ich, liebeäugelnd, / ja gekommen von verstande".
Jedoch klagend melancholisch, aber auch vergnüglich frech dichtend, hat ihn Meienberg nochmals gerettet.

Beat Mazenauer

 

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