Geboren am 20. 6. 1917 in Niederbipp, abgebrochenes Hochbaustudium in Burgdorf, Arbeit als technischer Leiter und Designer in der Lampenfabrik von Niederbipp, im Alter von 54 Jahren gibt er die Arbeit auf und widmet sich vollständig dem Schreiben, heute in Niederbipp lebend.

Gerhard Meier der Kosmopolit aus der Provinz oder Niederbipp als Drehscheibe von Welt

Das Werk des 78jährigen Gerhard Meier liegt quer in der literarischen Landschaft. Es entzieht sich allen Zuordnungen und sein Autor scheut die Öffentlichkeit. Anfangs der 90er Jah-re jedoch schien mit Gerhard Meier eine seltsame Wandlung vor sich gegangen zu sein. Es schien, als würde der Niederbipper Dichter auf einmal seine geliebte Klause verlassen, um sich der Öffentlichkeit zu stellen. Meier-Lesungen, Meier-Ehrungen, Meier-Filme zuhauf haben in diesen Jahren stattgefunden. Mittlerweile ist die Betriebsamkeit wieder verebbt, doch die weit herum geteilte Wertschätzung strahlt weiter.

Natürlich war es nicht Gerhard Meier selbst, der sich verändert und die Publizität gesucht hat. Er ist bis heute der zurückgezogen lebende und wirkende Dichter geblieben, der das dörfliche Niederbipp zum Zentrum seines poetischen Kosmopolitismus gemacht hat. Viel-mehr war es der «Literaturbetrieb», der diesen stillen Schaffer dem breiteren Publikum vor-führte. Seine Bücher waren in den Feuilletons zwar seit je her auf positiven Widerhall gestossen, nun jedoch schien dieses literarische Interesse offenkundig neue Blüten zu treiben. Ähnlich wie in dem zu spät wiederentdeckten Robert Walser erkannten Autoren der jüngeren Generationen in Gerhard Meier ein Vorbild. Stellvertretend begründete Peter Handke seine Faszination. Die Lektüre in Meiers Prosawerk belebe ihm den einzelnen Tag, weil es «jeweils von so einem erfüllten oder jedenfalls bestandenen oder von einem einheitlichen, sanft-zornigen, Lebensgefühl durchwehten Tagesgeschehen erzählt». Davon haben sich viele Leserinnen und Leser anstecken lassen.

Faszination des Gewöhnlichen

«Seine Texte arbeiten 'insgeheim'», hielt Werner Weber fest, um gleich anzufügen: «Woran?» Eine schwierige Frage, auf die Handke in dem angeführten Zitat eine mögliche Antwort gegeben hat. In der Lebensnähe und dem erzählerischen Gleichmut liegt eines der Geheimnisse verborgen. Nochmals Handke: «Am Ende erscheint jedes Buch Gerhard Meiers, und all sein Bücherwerk zusammen, als eine einzige einheitliche Spirale, verknüpft aus zusam-mengehörigen, sich wiederholenden Sätzen, wobei gerade die winzigen Zusätze, Änderun-gen, Nuancen und Neuigkeiten ins Freie, in die Welt hinauskreisen».

Ein zweiter Grund mag in Meiers biographischem Werdegang begründet sein. Natürlich schrieb dieser - wie so viele - schon in seiner Jugend: Lyrisches. Doch der «Hang zur Nützlichkeit» und zugleich der Respekt vor der grossen Literatur lenkten ihn auf andere Wege. Nach seiner Ausbildung als Ingenieur gründete er 1937 mit Dora Vogel eine Familie und trat wenig später in die Lampenfabrik AKA in Niederbipp ein, der er während insgesamt 33 Jahren die Treue hielt. Das Nützliche schien obsiegt zu haben, zumal dieses «einfache Leben» durch eine vollständige Lese- und Schreibabstinenz geprägt war. Erst Mitte der fünfziger Jahre begann sich Meier wieder an die poetische Sehnsucht seiner Jugendzeit heranzutasten. 1971, nach zwei Lyrik- und einem Erzählbändchen, wagte er den Sprung vom Arbeiter zum freien Autor.

Dieses pragmatische Nach- und Nebeneinander von beruflichem Werdegang und literarischem Schaffen hat das Werk Meiers zweifellos geprägt. Es hat ihm ein «stilles Gesetz» eigener Art einbeschrieben, das nicht um die Gunst des grossen Publikums und der lauten Medien buhlt. «Ich habe die Welt nie gesucht, bin ihr nie nachgerannt und bin auch den Texten nie nachgerannt, sondern ich bin von ihnen überrannt worden», äusserte er in den intensiven «Amrainer Gesprächen» mit dem Germanisten Werner Morlang, die 1995 unter dem Titel «Das dunkle Fest des Lebens» als Buch erschienen sind: Dokument einer literarischen Passion, die irgendwie präzise das Leben ihres Autors spiegelt.

Das Gewöhnliche war ihm stets wichtig, weil es «eine Grösse und ein Pathos hat, die mich zeitlebens erschüttert haben».

Gehen und Denken

«Gehen (und also Denken)». Diese leitmotivische Formel aus Thomas Bernhards «Gehen»-Buch liesse sich trefflich als Motto über die grossartige «Baur und Bindschädler»-Tetralogie stellen. «Meine besten Texte habe ich vermutlich auf meinen Wanderungen in den Wind geschrieben», heisst es vielsagend in dem besagten Gespräch. Tägliche Spaziergänge waren für Meier gleichsam Schreibelexier, seinen Spuren folgen im Roman «Die Toteninsel» (1979) auch Baur und Bindschädler. Sie gehen durch das fiktive Amrain und knüpfen gemeinsam an einem Gespräch über Gott und die Natur, den Menschen und den Tod. Ihren kreiselnden Dialog führen sie in «Borodino» (1982) und der «Ballade vom Schneien» (1985) fort, ehe er in «Land der Winde» (1990) an Baurs Grabe sachte verweht. Bindschädler lauscht nochmals der Rede des Toten: «Ich war ein Wesen, das aus der Müdigkeit kam. Vielleicht kommt auch das Massliebchen von dort?»

Diese vier Romane und nicht anders die Bücher zuvor tun sich durch ihre Reife und Schlichtheit hervor. Keine durchgehende Handlung, eher eine konzentrierte Fülle von eigensinnigen Reflexionen und faszinierenden Beobachtungen. «Nein, ich habe immer erst geschrieben, wenn sich etwas äussern wollte», meinte der Autor, dann aber müsse er den Text «sprachlich als Ganzes hinkriegen», seine «Scheu herauszutreten» überwinden.

Entsprechend dieser Vorsicht ist Meier ein demütiger Autor geblieben. Häufig verwendet er in den Gesprächen mit Werner Morlang das Wort «dürfen», wo andere «können» oder «müssen» setzen würden. Ein zweites Lieblingswort taucht permanent im Zusammenhang mit seinem Schaffen auf: vegetativ. Alles ist gewachsen, im Fluss des Lebens, der Sprache und der Klänge. Darin besteht die Schönheit der Kunst, nicht in Glanz und Brimborium.

«Bei mir läuft manches vegetativ»

Wiederholt holen die «Amrainer Gespräche» auch Motive und Leitbegriffe ein, die exakt das Vegetative, Fliessende, Kreiselnde bedeuten: «Unser Leben hat mit Wiederholungen, mit kreisförmigen, mäandrischen, spiraligen Erscheinungen zu tun.» Sie beruhen auf einer Behäbigkeit, die bei Gerhard Meier Kunst und Leben, Geist und Materie, Skepsis und Spiritualität, Glück und Melancholie untrennbar miteinander verknüpft.
Gerhard Meiers Autorschaft lässt sich als aufmerksamen Wachzustand umschreiben: offen für die Worte, die ihm der Wind zuweht. Entsprechend enthält er sich lauter Töne. In diesem Sinn endet auch das Gespräch mit Werner Morlang. Froh darüber, 33 Jahre in der Fabrik gearbeitet zu haben, bilanziert der Autor: «So konnte ich etwas ruhiger dieser scheinbar unnützen Tätigkeit obliegen, die man Schreiben nennt.»

Beat Mazenauer

 

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