Venedig

Hier dämmert Zeit,
Gefangen
Von Wasserewigkeit,
Die - zeitlos weiblich -
Verwelkendes dem Tod verwehrt.

Dem Meere männlich abgetrotzt,
Dem Meere, das dich stets bedroht;
Dem du vermählt -
Das todgeweiht Schönheit spiegelt.

Dein Lied
-Des morschen Abendlandes
Schwanengesang -
Verhallt im Gassenlabyrinth,
In der betört ein müder Tritt
Fortwährend sich verirrt:
Entrinnen gibt’s hier nicht!
Nur Tod!

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Zinalrothorn

Glühend dein Fels,
Und glühend rot
Verleitest Kühnheit in die Höhe,
Am Himmelsrande zu verweilen.

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Allalin

Geheimnis aus dem Morgenland,
Von Sarazenen hergebracht
Aus tausend und aus einer Nacht,
Als Spinx im Eise Zuflucht fand.

Orpheus’ verschmähte Leierkraft
Entsiegelt’ wohl das Zauberwort;
Noch schläfst in leiser Ahnung fort,
Verhüllt in Wolken schleierhaft.

Ein Schatten fremd und ahnungszart,
Verzaubert Berge, Licht und Schnee;
Fallt auf das Dorf der Gletscher-Fee,
Die dieses Rätsel streng bewahrt.

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„Plötzlich und ungeladen war sie da - die Krise, berührte jeden irgendwie, brachte den Boden unter den Füßen ins Wanken und ließ ein Gefühl des Unbehaustseins zurück.

Zwar hatte sie sich leise schon früher angekündigt: Ein Hauch „Unbehagen in der Kultur" regte sich sacht'; er ließ sich bequem verscheuchen. Der Alltag, einer überlegenen, westlichen Lebensform, hatte uns wieder; eine Kultur, die sich gerade anschickte, die Welt in einen - uns konformen Raster zu pressen und ihr ein aus abendländischen Werten gewobenes - Gewand zu verpassen; das einzig kleidsame, wie wir uns vermaßen."

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„Grenzen trennen, schirmen ab, bergen politischen Zündstoff; öffnen, verlocken und versöhnen. Aber Grenzen zwischen Ländern, Regionen und Kulturen sind niemals hermetische Trennlinien, sie greifen - zur Freude mancher, zum Leidwesen anderer - in einander über; sind durchlässig.

Diese Durchlässigkeit befruchtet, regt durch bespiegelndes Vergleichen zur Reflexion an, verinnerlicht, vertieft und artikuliert die eigene kulturelle Identität. Das wäre an und für sich höchst wertvoll für die Entfaltung des Menschengeschlechts. Doch die Geschichte und der Alltag zeigen: An Grenzen scheiden sich die Geister: Die Berührung mit anderen Kulturen äussert sich polar in zwei grundverschiedenen Denk- und Verhaltensmustern. Je nach der inneren Reife, welche ein souveränes Selbstbewusstsein voraussetzt, in wohlwollender Bejahung des Andersseins; in Toleranz, oder in enger, ängstlicher Abschottung. Freilich müssen wir einräumen, dass eine gewisse Abgrenzung ein Teil der Wegstrecke zu einer persönlichen Selbstfindung säumt. Nur die, welche sich in voller Selbstsicherheit wiegen, bedürfen ihrer nicht mehr. Grenzbegegnung führt also entweder zur inneren Bereicherung, zur kulturellen Vielfalt oder zum formenverhafteten Fundamentalismus und - im Extremfall zum Kriege."

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Matterhorn

Allegorie des Ewigen und - Spiegel der Vergänglichkeit

Es dürfte schwierig sein, auf dem weiten Erdkreis einen berühmteren Berg als das Matterhorn aufzuspüren, denn in ihm greift der Begriff „Berg" nach Gestalt und drängt sie zur Vollendung. Alle Attribute unterstreichen und zelebrieren diese: seine strahlende Erscheinung, seine einmalige Form, die urewige Gesetze der Harmonie widerspiegelt und - seine erhaben einsame Lage. Von Zermatt aus rührt der Anblick des Matterhorns irgendwie an die, in tiefster Seele schlummernde, alchimistische Mär vom Einhorn, die - ganz anders als unsere in der Polarität von Hell und Dunkel versunkene Welt - ewig strahlende, dreidimensionale Einigkeit verheisst. Das eine Horn mit den drei sichtbaren Gratlinien als mystische Allegorie des Ewigen und als Symbol des Göttlichen.

Darum übt es eine unwiderstehliche, sich jeder rationalen Beurteilung entziehende Anziehungskraft auf die Menschen aus und darum gilt es landläufig natürlich als das schwierigste und lohnendste Bergziel. Ein Zermatter wird immer wieder gefragt, ob er das Matterhorn, aber nie ob er die Dent Blanche oder gar das Weisshorn bestiegen habe. Einer, der den Zermatter Traumberg bezwungen hat, wird viel mehr Bewunderung erlangen als ein anderer, der das weit anspruchsvollere Zinalrothorn erklommen hat.

Es ist kaum zu glauben, das Matterhorn, dieser erhabene, stolze Berg, formte vormals als Teil der trägen afrikanischen Landmasse den nördlichen Küstensaum des heissen Kontinentes, verdankt - so banal es tönt - seine Anmut der Erdfaltung und nicht zuletzt der Gletschererosion. Sein wuchtiger Fuss besteht aus Bündnerschiefer und Serpentinit, ruht auf einer Unterlage von weicherem, leichter erodierbarem Gestein vulkanischen Ursprungs, Kalkglimmerschiefer und Marmor. Darüber schichten sich horizontal verschiedene, gebänderte Gneisarten und magmatische Gesteine des Dent Blanche Sockels. Der Gipfel selbst besteht aus Paragneis, einem hochmetamorphen Sedimentgestein.

So widerspiegelt der Anblick des Matterhorns - wie übrigens der aller Berge - im geologischen Zeitraffer „nur" einen augenblicklichen Zustand im Ablauf ununterbrochener Verwandlung aller Landschaftsformen. Und gerade weil Berge die immerwährende Melodie von Werden und Vergehen verlauten, erscheinen sie als Metaphern der Ewigkeit.

Das Gesetz der Polarität und der stete Fluss aller Dinge lassen sich niemals von der Erde verbannen; sie gelten sogar für das dem Irdischen enthobene - und doch der Erde entwachsene - Matterhorn: Je heller das Licht, desto dunkler sein Schatten! Der Webstuhl der Zeit verflicht die Fäden von Hell und Dunkel zum bunten Tuch, aus dem fortschreitende Veränderung das Kostüm des Lebensreigens fertigt. Das Matterhorn ist sowohl Triumph - als auch Schicksalsberg, ist Erfüllung und Ziel jeder Bergsteigersehnsucht, ist aber auch Moloch, der seit 1865 Sommer für Sommer Unzähligen zum Verhängnis gereicht.

Schon die in ihrer spektakulär tragischen Facette hinlänglich bekannte Geschichte des „Kampfes ums Matterhorn" kündet davon. Neben dem spannenden Wettrennen der beiden ehrgeizigen, willensstarken Protagonisten Jean Antoine Carrel und Edward Whymper findet die gebannte innere Dramatik, die mit der schicksalsschweren Zerstörung eines Mythos einherschritt, bis jetzt zu wenig Beachtung. Immerhin ein Ereignis, das für Zermatt eine nicht mindere Bedeutung birgt als etwa 1791 die Erstürmung der Bastille für Paris. Mit der Bezwingung des Matterhorns drang 1865 die Neuzeit in das bis dahin verschlafene Bergtal, prallten Moderne und Mittelalter, Aufklärung und tiefverwurzelter Aberglaube unerbittlich aufeinander. Die beiden Zermatter Führer Peter Taugwalder Vater und Sohn, die Edward Whymper damals begleiteten - sicher war ihnen bei diesem „frevlerischen" Unterfangen nicht so recht geheuer - haben ein uraltes Tabu gebrochen, ein nie artikuliertes ehernes Gesetz verletzt: Das Matterhorn durfte gar nicht bestiegen werden, es stand für das Transzendente, das ganze dörfliche Leben Abgrenzende, für das Unantastbare, galt im Gegensatz zu ihrer barockverzerrten, obrigkeitshörigen, animistisch verbrämten Religiosität als Symbol unbedingter göttlicher Allmacht. Jede Veränderung stammte wie alles Neue vom Teufel. Die Erstbesteiger haben nach dem ungeschriebenen, felsenfesten Glauben ihrer heimischen Mitbürger den Zorn des Berges heraufbeschworen. Sie haben, indem sie nichtsahnend dem englischen „Prometheus", der die lodernde Fackel der Neuzeit in die düstere Enge des Bergtals schleuderte, zum Sieg verhalfen, den jahrhundertelangen gemächlichen Lauf aller Dinge gewaltsam unterbrochen. Natürlich liess sich die Schwerkraft des versteinerten Mythos, der sich in dieser Bergabgeschiedenheit so lange festgekrallt hatte, nicht ungestraft hinwegfegen. Der Ahnen Rache hatte Vater Taugwalder - sicher begegnete sein Sohn allem schon etwas unbekümmerter - wirklich eingeholt. Dass diese nach Sühne schreiende Schuld in seiner eigenen magischen Mythoshörigkeit und in seinem noch Verhaftetsein in erstarrten Traditionen wurzelte, ahnten er nur. Fortan lebte er als Ausgestossener und Initiierter wider Willen. Enttäuscht wanderte der Beargwöhnte nach Amerika aus, kehrte bald zurück und starb 1888 auf Schwarzsee, am Fusse seines Schicksalsberges, wo auch - der rächende Berg gab sich noch nicht zufrieden - sein jüngster Sohn ertrank.

Ernesto Perren

 

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