Die Wahrheit gibt es, doch sie ändert beständig ihre Gestalt. Unter diesem Motto könnte Urs Richles jüngster Roman „Fado Fantastico“ stehen. Wer eine Geschichte erzählt, erzählt sie so, wie er sie selbst gehört, verstanden, ausgeschmückt hat. Mit dem tatsächlichen Geschehen mag diese Erzählung oft nicht viel zu tun haben. Doch ist das wichtig?

Ein trauriger Gesang

„Es gibt Geschichten, sagt man, die auf der Strasse liegen. Andere müssen mühsam aus der eigenen Erfahrung zusammengeklaubt werden. Wieder andere fliegen einem zu wie Träume.“ Mit diesem Gedanken leitet Richles Ich-Erzähler eine Episode aus seiner nächsten Nachbarschaft ein. Von Francisco Fantastico aus Lissabon hat er erst aus der Zeitung und dem Gerede auf der Strasse erfahren, obwohl der gleich über ihm wohnte. Unauffällig lebte er während 14 Jahren ohne die dafür nötigen Bewilligungen in Genf. Eines Tages zog er die Pistole aus dem Nachtkasten und streckte den Juniorchef mit zwei Bauchschüssen nieder.

Francisco war ein stiller Arbeiter in der Spedition eines Medizinalgeräteherstellers. Nach der Arbeit zog er sich mit seinem Kumpel Jean auf ein paar Biere in die Kneipe zurück, danach genehmigte er sich noch ein paar Biere mehr in seiner Bude, die ihm seit Jahren zur Untermiete überlassen war. Nachts schlief er schlecht und morgens wartete er auf den Anruf des Patrons, ob er heute wieder gebraucht würde. Einen Arbeitsvertrag besass er ebenso wenig wie irgendwelche soziale Absicherung. Als der Seniorchef sich aus dem Betrieb zurückzog und ihn seinem Filius übergab, änderte sich für Francisco die Situation insofern, als er danach meist nur noch im Haus des alten Patrons zu Diensten war.

Niemand aber wusste, dass dieser Francisco in Lissabon eine Familie zurückgelassen und mit ihr jeden Kontakt abgebrochen hatte. Ja Francisco selbst wusste nicht mal, dass seine Frau bei seinem Weggang mit einer Tochter von ihm schwanger war. Sein Aufenthaltsort blieb unbekannt. Und mit der Zeit verhinderte das schlechte Gewissen von selbst, dass er sich meldete.

Erst der zwanzigste Geburtstag des Sohnes António war als Beweggrund stark genug, das Geheimnis in einem Brief preiszugeben. Zu Hause waren alle überrascht von diesem Lebenszeichen. Die beiden Kinder hatten nur die Legende von Vaters frühem Tod gekannt. Doch vor allem António machte das plötzliche Auftauchen auch wütend, so sehr, dass er spontan entschied, nach Genf zu fahren: Ein Leben lang hatte er sich einen Vater gewünscht, auf den er stolz sein könnte.

Die Wirklichkeit in Genf präsentierte sich unerwartet lamentabel. Deshalb entführte António seinen Vater ebenso spontan nach Lissabon. Allein, die familiäre Wiederbegegnung konnte nicht gut enden. Francisco kehrte nach Genf zurück, António folgte ihm. In der Spedition kam es neuerlich zum Treffen und zugleich zum „Showdown“ mit dem Chef. António sollte fliehen, der Vater würde die Schuld auf sich nehmen.

Die Schlagzeile am nächsten Tag überraschte den Erzähler. Selten aber ist die Wirklichkeit so simpel wie es in der Zeitung steht. Jean, ein Arbeitskollege von Francisco, den das Ich zufällig in einem Bäckerladen kennen lernt, berichtet ihm ausführlicher die tatsächlichen Vorgänge. Zum Schluss wünscht er, dass der Erzähler dem in Portugal lebenden Sohn des Täters einen Brief und eine Musikkassette mit berühmten Fado-Interpretationen überbringe. Auch diese Begegnung wird zur Enttäuschung, im wörtlichen Sinn. Antónioverneint geradewegs, jemals in Genf gewesen zu sein und einen Jean zu kennen. Welche Geschichte ist wahr? Spielt die Wirklichkeit mit der Phantasie Ringelreihen? Auf jeden Fall bleibt am Schluss der Geschichte vieles offen: zwielichtig, ohne verbindlichen Status, so wie Francisco gelebt hat.

Aus dieser Ungereimtheit bezieht Richles Roman seinen Reiz. Allerdings werden sie die Lesenden erst spät inne. Der Erzähler hält sich weitgehend an die Chronologie der Ereignisse, bis er selbst nach Lissabon reist und da mit der widersprüchlichen Version Antónios konfrontiert wird. Mit dieser späten Eröffnung vergibt Richle aber ein wichtiges Spannungsmoment, das seiner Geschichte etwas mehr Pfiff verliehen hätte.

Ohne sich auf Experimente einzulassen, erzählt er das Leben des Francisco Fantastico, flüssig und anschaulich, mitunter auch etwas oberflächlich, zum Beispiel bei der Beschreibung der stereotyp wirkenden Vater-Sohn-Beziehung anbelangt. Dergestalt aber mangelt es seinem Roman an packen­der, verunsichernder Emotion. Am Ende erfahren wir aus diesem Roman eine endlos verwickelte Geschichte, wie sie das Leben hätte schreiben können und möglicherweise vielfach schon geschrieben hat. Urs Rich­le ist ihr ein solider Chronist, der sich nicht entscheiden will, wer wohl das Rechte erzählt hat.

Urs Richle: Fado Fantastico. Roman. Nagel & Kimche 2001. 190 Seiten.

Beat Mazenauer

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