Das Bergwerk im Kopf
Vor Wochen hat der Toggenburger Autor Urs Richle seinen zweiten Roman "Mall oder Das Verschwinden der Berge" vorgestellt. Schauplatz der ungewöhnlichen Buchpräsentation war der Sarganser Hausberg Gonzen, genauer das 1966 stillgelegte Eisenerzwerk in seinem Innern. Von ihm geht eine Faszination aus, die auch Mall und Hörmann, die Helden Richles, umtreibt.
Ulrich Hörmann lebt eigentlich im Frieden mit seiner Umwelt. Niemand scheint ihn zu behelligen, wenn er fremd und kontaktscheu durch die Gassen von Sargans stapft. Erstaunlich dünkt ihn bloss, "dass es so lange gedauert hatte, bis jemand auf mich aufmerksam geworden war, und dass ich davon nicht das Geringste bemerkte." Allein, dieser Schein trügt. Weil er selbst nicht das Geringste bemerkt, wird er eben auch nicht inne, dass er längst beobachtet ist. Der abwartenden Passivität steht die strenge Registrierung seiner Sonderlichkeit gegenüber.
Der Krankenpfleger Hörmann ist wegen dem Gonzen nach Sargans gekommen. Auf die Idee dazu gebracht hat ihn sein Patient in der Zürcher Klinik Käferberg, wo er den alten Bergwerksingenieur Carl Mall während der letzten Lebensmonaten begleitet. Seine Geschichte will Hörmann genauer verstehen können.
Mall arbeitete einst im Gonzener Stollen; alt geworden schafft der Stollen nun in seinem Kopf weiter. Hörmann hilft ihm bei der "Arbeit" und begreift doch nichts davon, weil Malls Befehle ihm nur absurd und fremd vorkommen.
Der Berg im Kopf
Doch eine geheime Faszination geht von ihnen aus, Signale dafür, dass irgendetwas den alten Ingenieur umtreibt und nicht zur Ruhe finden lässt: "Sein Kopf ist das Werk und das Werk ist sein Kopf". Hörmann möchte es erfahren und verspinnt sich so selbst immer tiefer in die Stollengänge des Gonzens, um diesen gemeinsam mit Mall zu zersetzen, auszuhöhlen, unsichtbar abzubauen. Deshalb reist er auch nach Malls Ableben ins Städtchen Sargans und mietet sich da in einem Hotel gegenüber dem mysteriösen Berg ein. Er beobachtet diesen, umwandert, umlauert ihn ohne den Mut zu finden, ihn zu besteigen und so zu besiegen. Gleichsam vom Mallschen Wahn befallen, gräbt sich stattdessen das Bergwerk immer mehr in Hörmanns Kopf hinein. Zuletzt holt ihn die Polizei.
Diesen Schluss setzt Urs Richle an den Anfang seines Buches und tastet sich von da her immer tiefer in die Stollengänge seiner Geschichte zurück. Er erzählt diskontinuierlich: kreiselnd und bohrend wie Hörmanns fixe Idee. Dieser vermag den Fragen seiner "Retter" keine klärenden Antworten entgegenzuhalten, denn "sie wollen Erklärungen, wir haben Geschichten". Immerhin findet er im stummen Zellennachbar einen idealen Zuhörer.
Stärken und Schwächen
Wie schon im Roman "Das Loch in der Decke der Stube", mit dem Richle 1992 auf sich aufmerksam gemacht hat, halten sich auch im "Mall"-Buch Stärken und Schwächen die Waage. Unbestreitbar ist das Talent, die Geschichte in eine komplexe Struktur zu fügen und dramaturgisch höchst effektvoll aufzubauen. Vor allem das dritte Kapitel - die Pflege Malls - brilliert dadurch, dass sich Selbstgespräch, Bericht und Reflexion unentwirrbar verflechten und enge Grenzziehungen verwischen. Freilich kontrastieren dazu wiederholt unnötige Platitüden, hochtrabende Formulierungen sowie gegen Ende hin die Tendenz, Hörmanns verzweifelte Suche förmlich zu zerreden.
An die reflexive Tiefe der Bergmetaphorik bei Burger, Bernhard oder Fühmann reicht Richle nicht heran. Und schliesslich überzeugt auch der Plot nicht recht, dass Malls obsessive Gedanken durch mögliche Eisenerzlieferungen 1942 ans nazistische Deutschland ausgelöst worden seien. Eher schon liegt der schwärende Wundpunkt in der steinernen Einsamkeit und Echolosigkeit von Malls wie Hörmanns Existenz, die Richle in seinen besten, versöhnlichen Passagen spürbar macht.
Urs Richle: Mall oder Das Verschwinden der Berge. Roman. Gatza Verlag, Berlin 1993. 184 Seiten.
Beat Mazenauer