90 ist ein stolzes Alter. Otto Steiger, der vielleicht schweizerischste unter den Schweizer Schriftstellern, verkörpert es mit Stolz. Im Buch „Ein Stück nur“ erinnert er sich an Episoden aus seinem reichen Leben.

EIN STÜCK NUR. ERINNERUNGEN IN EPISODEN

„Un chic type“ von der Scheitel bis zur Sohle

Otto Steiger ist ein sehr schweizerischer Schriftsteller, zugleich aber auch einer von Weltrang. Seine Romane und Erzählungen sind in insgesamt 17 Sprachen übersetzt, zum Beispiel ins Russische, Chinesische oder Schwedische. Eine stolze Zahl. Fernab der Schweiz künden sie von einem Land, in dem die Menschen recht leben und es recht machen wollen. Ihre Zurückhaltung ist Ausdruck einer etwas behäbigen, bodenständigen Lebenshaltung, die ohne Häme kleinbürgerlich genannt werden kann.

Wer nun aber meint, Otto Steiger sei ein bitter boshafter Ankläger der „Sicherlinge“, wie sie einer seiner Helden nennt, liegt falsch. Er ist ein listiger Nonkonformist, dessen sozialkritische Literatur weniger blendet denn präzise beobachtet und dabei auch noch auch unterhalten will. In seinen Büchern entlarvt er die schweizerische Lebensart auf eine Weise, die sich dieser Lebensart charmant und schalkhaft anschmiegt. Steiger ist ein freundlicher, zugleich aber auch ein sehr genauer Zeuge der kleinbürgerlichen Rechtschaffenheit und ihrer Tücken. Ironie kommt bei ihm vor Satire, der spleenige, nette Quertreiber deckt die gesellschaftlichen Zwänge auf schrullige Weise auf.

Otto Steiger schreibt mit „bon sens“ – und hat solchen. „Un chic type“ attestierte ihm 1943 ein welscher Korporal, ohne wohl zu wissen, wie exakt er seinen Deutschschweizer Dienstkollegen damit beschrieb. Ein patenter Kerl, dem persönlicher Hochmut ebenso fern liegt wie das Zelebrieren des eigenen literarischen Schaffens. Sein jüngstes Buch, die Erinnerungen in Episoden unter dem Titel „Ein Stück nur, legt davon beredtes Zeugnis ab.

Gottvertrauen auf dem Prüfstand

Wenn der Gedanke an den Tod schon in der Jugend beängstigend sei, „wie entsetzlich muss es sein, wenn ich siebzig geworden bin“. Otto Steiger liess dieses Entsetzen weit hinter sich.

1909 in Uetendorf bei Thun geboren und in Bern aufgewachsen, hat er das Jahrhundert fast von Beginn weg miterlebt. Die ersten Episoden, an die er sich lebhaft erinnert, stammen aus einer scheinbar fernen Zeit: die Kaninchen auf dem Balkon der Nachbarin, die der Metzger lachend mit einem Keulenhieb erledigt. Eine echte Bewährungsprobe für das Gottvertrauen des kleinen Jungen. Nicht nur, weil die schnuckeligen Tiere einen so schnöden Tod sterben mussten, viel mehr noch, weil der wenig später verstorbene Metzger trotzdem ins Himmelreich kommen sollte. Wie der Pfarrer sagte. „Ich hatte gedacht, im Himmel, wo alles hell und kostbar in Gold ist, sei die Auslese doch viel strenger“, zumal dem Jungen selbst noch die lässlichste Lüge angekreidet wurde, um ihn mit einem zugesperrten Himmelstor zu erschrecken.

Es war Krieg damals und das Leben entsprechend nicht einfach, auch in der Schweiz nicht. Deshalb durfte man es mit dem Metzger nicht verderben. Mutters Lächeln liess bei ihm immer wieder eine Wurst herausspringen. Auf der anderen Seite sorgte der Vater, der für den Zoll arbeitete, dafür, dass hie und da eine Zusatzration auf den Tisch kam. Dies gereichte ihm zumindest zeitweise zur Ehrenrettung, denn „wir hatten alle wenig oder keinen Grund, unserem Vater für irgendetwas dankbar zu sein“. Der Haussegen hing offenkundig schief in der Familie Steiger. Die Eltern vertrugen sich um des häuslichen Friedens willen, doch die drei Söhne lehnten den Vater, einen senkrechten Sozialdemokraten, ab. Ihnen gegenüber schien er nie den richtigen Ton zu treffen, so blieb die gegenseitige Beziehung quälend distanziert. „Wir mochten ihn nicht und wir sprachen daher so wenig wie möglich mit ihm“, heisst es in einer der Episoden in „Ein Stück nur“. Solche harschen Töne gegenüber einer erzählten „Figur“ überraschen, lassen sie sich in Steigers Werk doch sonst kaum je finden.

Die Stimme der Schweiz

Der Autor ruft sich vergangene Zeiten ins Gedächtnis zurück, nicht ohne sich stets bewusst zu sein, dass die Erinnerung eine unsichere Gefährtin ist, weshalb er sie mit Vorsicht immer wieder zu relativieren weiss. In einem einfachen Plauderton ohne floskelhaften Aplomb, als ob ihm akkurat beim Verfertigen des Textes die eine oder andere Erinnerung gerade erst ins Gedächtnis gesprungen sei, macht er uns Lesende gleichsam zu Zuhörenden. Kleine Erzählbögen und gewitzte Zuspitzungen, die in den ersten Kapiteln als naiv kindliche Schlussfolgerungen getarnt sind, halten bei Laune und bezeugen zugleich die Menschenfreundlichkeit des Erzählers.

Otto Steiger ist und war nie ein Eiferer. Viel lieber lässt er einen unpathetischen Pragmatismus und gesunden Menschenverstand walten, der das eigene Ideal zwar durchscheinen lässt, doch stets angefochten von seinem Sinn für die Realitäten. „Ich weiss, grosse und tapfere Gedanken gelingen mir nicht“. Die Helden seiner Bücher eifern in dieser Hinsicht ihrem Autor auffällig nach.

„Ein Stück nur“ ist alles andere als eine Heldengeschichte, dafür nimmt sich der Autor als Vorbild zu wenig wichtig. Dies bedeutet indes nicht, dass Otto Steigers Erinnerungen belanglos wären. Die Eindrücke aus der Kleinbürgerfamilie zur Zeit des ersten Weltkriegs erfahren eine Steigerung durch die Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Zwischen 1936 und 1942 wirkte Otto Steiger nämlich als Nachrichtensprecher für die Schweizer Depeschenagentur beziehungsweise das Schweizer Radio. Er war demnach so etwas wie die „Stimme der Schweiz“, der ab Kriegsbeginn 1939 zusätzliches Gewicht zuteil wurde, weil angesichts eines drohenden Einmarsches der Deutschen die Radionachrichten nur von dieser vertrauten, „offiziellen“ Stimme gelesen werden durften, um einer gegnerischen Falschinformation vorzubeugen. In diesem Zusammenhang kam es tatsächlich auch zu einem Zwischenfall. Vor dem Haus, in dem Steiger wohnte, überwältigten Zivilpolizisten in einem Handgemenge einen deutschen Botschaftsangehörigen, der dem Nachrichtensprecher nachspioniert und ihn fotografiert hatte. Ein bisschen schmeichelte dies sogar dem bescheidenen Steiger, denn: „Ich war damals knapp über dreissig, und in dem Alter finden Männer leicht einen Grund, stolz zu sein.“

„Der rote Steiger“

Ansonsten aber ging das Leben seinen gemächlichen Gang gerade auch in jener angespannten Zeit. Steiger verrichtete seinen Militärdienst im Armeestab in Bern, tagsüber als Protokollführer bei der Filmzensur, morgens oder abends als Nachrichtensprecher, deshalb konnte er bei sich zuhause wohnen und im eigenen Bett schlafen. Bevor er seinen Aktivdienst quittieren konnte, wurde er 1943 nochmals einberufen, zur Police frontière in Genf. Selbst ertappte er keine Flüchtlinge beim illegalen Grenzübertritt, wie es überhaupt recht ruhig war an diesem Grenzabschnitt. Als aber eines Abends ein Vertriebener im Quartier der Truppe anklopfte, wurde er nach seiner Verköstigung (Fondue) von Steigers Korporal vorschriftswidrig bei sich zuhause einquartiert, damit er auf keinen Fall zurückgeschickt werden konnte. Von demselben Korporal, wir ahnen es, der in Steiger den patenten Kerl erkannte: „pour un Suisse allemand, tu es un chic type“.

Wenige Monate später eröffnete Otto Steiger in Zürich eine private Handelsschule, nebenher arbeitete er an seinem zweiten Roman, nachdem der erste „Sie tun als ob sie lebten“ auf überraschendes Echo gestossen war. Dies bewog den Jungautor, weiter zu schreiben, mit dem Effekt, dass er nochmals (und auf Jahrzehnte hinaus zum letzten Mal) auf öffentliches Interesse stossen sollte. 1957 wurde er wegen eines Besuchs in der Sowjetunion wider Willen zum „roten Steiger“ gekürt. Anlass für diese verhängnisvolle Reise bot der Roman „Porträt eines angesehenen Mannes“, der 1951 erschienen war. Darin erzählt Steiger „die Geschichte eines Mannes, der aus bescheidenen Verhältnissen kommt, rücksichtslos nur seine Karriere im Auge hat und auf diese Weise zu Reichtum und Ansehen gelangt“. In der Schweiz als „kommunistisches Machwerk abgestempelt“, erzielte der Roman in der Sowjetunion einen schönen Erfolg mit rund 300’000 verkauften Exemplaren – notabene als erstes übersetztes Schweizer Buch aus der Nachkriegszeit. Gemäss den Gepflogenheiten des Kalten Krieges hatte man den Autor nicht um eine Druckerlaubnis angefragt, dafür wurde er zu drei Wochen Urlaub in die Sowjetunion eingeladen. Trotz der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ wenige Monate zuvor nahm Steiger an, nicht aus ideologischer Bundestreue, sondern „aus Neugier“ und weil er sich selbst ein Bild von diesem Land und seinem System machen wollte. „Für mich“, rechtfertigt er sich, „war die Sowjetunion eben doch das Land, das im Krieg gegen die Deutschen am meisten gelitten und dessen Armee in der Schlacht um Stalingrad die Wendung zum Guten herbeigeführt hatte.“

Für Steiger bestätigten sich einige Vorurteile, andere wurden korrigiert. Was die positive persönliche Bilanz allerdings bald trübte war, dass es für ihn nun aber vorbei war mit der Herrlichkeit des Schriftstellerlebens in der Schweiz. Als Kommunist gebrandmarkt sollte er während Jahrzehnten grösste Schwierigkeiten bekunden, einen Verlag für seine Bücher zu finden. Doch Steiger wäre nicht Steiger, würde er deshalb den für ihn folgenreichen Entscheid im nachhinein bereuen.

Bon sens

„Ein Stück nur“, das autobiographische Porträt eines Autors, der vom Schreiben nicht leben konnte und wegen seines schlechten Rufs erst spät zu Ehren und Anerkennung gelangt ist, trifft exakt den Steigerschen Erzählton. Er ist lakonisch-ironisch, eingängig und leicht verständlich, an einer mündlichen Erzählweise orientiert, deren Reiz darin besteht, dass die erzählten Figuren genau so reden, wie sie sind. Nie spiegeln sie ein falsches Wissen vor. Darin besteht die unnachahmliche Meisterschaft dieses Autors, das heimtückisch Subversive. Mit rührender Naivität gestehen seine Figuren die eigenen Schwächen mit eigenen Worten ein; und indem sie sich auf schrullige Weise der Norm entziehen, entlarven sie die verdrängten Hoffnungen jener, die sie zur Raison rufen wollen und sich dabei mit dem faden Kompromiss „ich würde schon, wenn“ bescheiden.

Dieser Erzähltaktik entspricht die Unsicherheit, die der sich Erinnernde selbst hier immer wieder kund tut. Er denke, er werde dies gemacht und jenes gedacht haben, heisst es wiederholt, weil derlei Tun seinem Charakter angemessen gewesen wäre. Aber sicher ist sich der Autor nicht. Mit solchen Mutmassungen und Unsicherheiten porträtiert sich Otto Steiger selbst als schüchternen, „tumben Toren“, der die Welt für sich erobert, ohne dass er recht weiss wie, dabei freilich stets einen bewundernswerten Realismus beweist. So gleicht dieses Selbstporträt den komischen „Helden“ seiner Bücher und hebt sich durch letzteren zugleich von ihnen ab. Benni Stab, Viktor Defonta, Egon Kammzug, Erwin Walker und wie sie alle heissen wollen aus der beengenden Ordnung der „Sicheren und Satten“ ausbrechen, um ein Glück zu finden, das sie selbst kaum benennen können. Die Suche allein ist ihr Ziel. Doch deswegen sind sie keine Revolteure. Ihr Protest ist rührend naiv, mit ihren „petites fugues“ verschaffen sie sich frische Luft.

Zufälle warfen Otto Steiger in seinem Leben immer wieder neue Bälle zu, die er geduldig auffing. Im Zickzack bahnte er sich so einen eigenen Lebensweg. Das eigene Zutun erscheint ihm in der Rückschau dabei eher unbedeutend. „Un chic type“ halt, der viel erlebt hat, daraus jedoch nur einen kleinen Hehl macht, sich wohl bewusst, dass andere Zeitgenossen im Auge des Taifuns überlebten, den er nur als Lüftchen am Rande draussen erlebte.

Was in seinen Erinnerungen allerdings schmerzlich fehlt, ist der legendäre Gummibaum, der in der guten Stube der Steigers steht und einem feuilletonistisch erprobten Besucher einmal als unpassend für eine Dichterklause erschienen sei. Doch gerade dieser unscheinbare Gummibaum markiert trefflich die Distanz des listigen Kleinbürgers zum prätentiösen Literaturbetrieb. Otto Steiger kokettiert ein bisschen damit, doch bloss, weil sich ihm durch das ungnädige Urteil des Besuchers Gelegenheit dafür bietet. So ist er halt.

Späte Anerkennung

Von der unterbrochenen literarischen Karriere ist in Steigers Erinnerungen nur am Rande die Rede. Nach dem Aufsehen, das die Sowjetunionreise erregte, dauerte es viele Jahre, bis die inzwischen geschriebenen und in Kleinverlagen publizierten Romane wie „Die Reise ans Meer“ oder „Das Jahr mit elf Monaten“ ein grösseres Publikum finden konnten. Jugendbücher durchbrachen schliesslich das öffentliche Stillschweigen. Deren letztes war zugleich das erfolgreichste: „Lornac ist überall“ (1981), ein Buch über die Tankerkatastrophe vor der bretonischen Küste, wurde 1987 vom Schweizer Fernsehen verfilmt. Zu dieser Zeit aber waren bereits auch die ersten Bände einer zehnbändigen Werkausgabe im Eco-Verlag erschienen.

Romane wie „Die Unreifeprüfung“ (1985), „Spurlos vorhanden“ (1987) „Orientierungslauf“ (1988) oder „Schott“ (1992) variieren Steigers Thema vom eigensinnigen Glückssucher, den es drängt, "wegzugehen, immer weiter weg, nirgendwohin und ohne Erwartung", in die Anonymität einzutauchen, "spurlos vorhanden" zu sein. Alle diese Bücher zeichnen sich durch die präzise psychologische Durchdringung der Lebensart ihrer Helden aus. Und in den besten unter ihnen (neben dem „Porträt“ zuerst zu nennen sind „Spurlos vorhanden“ und „Orientierungslauf“) brilliert Otto Steiger als unnachahmlicher Chronist des helvetischen Alltags.

Von Otto Steiger, Edition 8, Zürich, 1999, 224 Seiten

Beat Mazenauer / www.kat.ch/bm