Jörg Steiner, geboren am 26. Oktober 1930 in Biel, wo er heute lebt.
Sein Werk umfasst Prosa, Gedichte, Hörspiele, Fernsehspiele und Reiseberichte.

Jörg Steiner ist kein lauter im Lande. Sein Werk, das er in den letzten 44 Jahren erschrieben hat, wirkt eher im Stillen. Steiner ist ein sensibler Beobachter abseits vom grossen Rummel.

Schöne neue Ordnung

"Ich erinnere mich an meinen Widerstand, der sich nur im Schweigen kundtun konnte." Diesen Satz sprach Jörg Steiner 1994 in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Erich-Fried-Preises. Eine Ehrung, die ihn verlegen machte. Während Erich Fried mit siebzehn von den Nazis ins Exil, in die Heimatlosigkeit getrieben wurde, wehrte sich Steiner als verstockter Junge gegen den "Bleiblick" der Erziehenden, indem er Geige spielte, um nicht bei den Pfadfindern mittun zu müssen. Steiner konfrontiert eine Banalität mit dem Unvorstellbaren. Gleichwohl blieb ihm die Jugenderinnerung haften und sensibilisierte ihn für die Bruchstückhaftigkeit des Lebens, die der Sicherheits- und Ordnungsdenkern trotzt.

Beinahe fünfzig Jahre später lässt er im Roman "Weissenbach und die Anderen" (1994) den alten Lehrer von Büren auftreten, den einst der Faschismus nach Otterwill vertrieb und dem es nie gelungen ist, sich in die vaterländische "Ordnung der Erinnerungen" einzupassen. Dafür lehrt von Büren seinen Schüler Weissenbach, skeptisch Wachheit zu üben gegenüber dieser Ordnung als selbstherrlichem Selbstzweck.

Ordnungsstörer sind sie fast alle, Steiners Figuren, weil "wenn man sich an eine Ordnung gewöhnt hat, fängt man an, selber Ordnung zu verlangen". Das aber trachten sie zu vermeiden. Rudolf Benninger in "Strafarbeit" (1962), Schose Ledermann in "Ein Messer für den ehrlichen Finder" (1966), die Stammgäste in der "Schönegg" im Roman "Das Netz zerreissen" (1982), Erich Jaag in "Fremdes Land" (1989), Bernhard Greif in "Der Kollege" (1996) und zu guter Letzt auch Goody Eisinger im zu erwartenden jüngsten Roman "Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch": durch das gesamte Werk von Jörg Steiner zeiht sich diese Spur der Aussenseiter, die sich nicht zur Ordnung bringen lassen; die zugleich aber auch versuchen, für sich selbst eine eigene, kleine, lebenswerte Ordnung zu schaffen. Der arbeitslose Greif hält sich deshalb strikt an seinen Tagesablauf, um nicht ganz aus der öffentlichen Ordnung herauszufallen.

Diese Haltung teilen andere von Steiners "Helden" insbesondere in der Prosa der letzten zehn Jahre. Sie widersetzen sich schweigend und ziehen sich auf sich selbst zurück. Darin sind sie, glauben wir Steiners Dankesrede, mit ihrem Autor verwandt. Auch er nutzte seine Rückzugsmöglichkeiten, speziell jene in die Bücher: "So bin ich zum Leser geworden und habe zu schreiben angefangen." Widerstand gegen die Ordnung heisst jedoch nicht, die Unordnung zu wünschen. Es geht darum zu akzeptieren, dass es keine Lückenlosigkeit im Erleben wie im Erzählen gibt. Und darum, die eigene Verstrickung, das Netz zu zerreissen.

Jörg Steiner erzählt keine zusammenhängenden Geschichten mit Anfang und Ende. "Das Leben", heisst es im "Weissenbach"-Roman, "das Geschichten erfindet, ist ein kühner Erzähler, es verweigert Erklärungen." Und mit einem Zitat von Erich Fried: "Es ist so, dass Geschichten eigentlich immer Fragmente sind, auch wenn ihre Erzähler und Schreiber das nicht wissen, und die Zuhörer und Leser erst recht nicht." Dabei lassen sich in Steiners Schaffen zwei Phasen unterscheiden. Die Sechziger- und Siebzigerjahre waren geprägt von Experimenten - im Lyrischen wie im Prosaischen. Hier begegnen wir einer auseinanderfallenden Welt, die durch den Akt des Schreibens experimentell zusammengefügt wird. "Die Verzerrung, der Riss, der Bruch in der Zeit" wird allenthalben spürbar. Der Schriftsteller versucht, die Einzelstücke zu einem ebenso fragilen wie fraglichen Ganzen zusammenzuflicken.

Im Roman "Das Netz zerreissen" beschreibt Steiner voneinander losgelöste Geschichten und Bilder, die sich insgesamt in ein kleines Panoptikum des provinziellen helvetischen Lebens fügen. Stilistisch zeichnet sich dabei eine Vereinfachung ab, die er in den folgenden Jahren konsequent vorangetrieben hat. Aus dem lyrischen Zusammenführen von Ungefügtem in der frühen Phase hat sich eine Poesie der Beiläufigkeit und der Absenz herausentwickelt, die sich zusehends an der Lücke, am Schweigen kristallisiert. "Die vollständigsten Geschichten sind die, die dort, wo sie mitten im Satz aufhören, einen Riss im Hirn hinterlassen", zitierte Steiner 1994 Erich Fried. Ein Schweigen bei gesteigerter Aufmerksamkeit.

Parallel dazu sind engagiertere Töne in seinen Geschichten manifest geworden. Intensiviert durch einen ausserordentlich behutsamen Umgang mit den literarischen Figuren, wird die "verlorengegangene Zusammengehörigkeit" vehementer, expliziter thematisiert. In der feinen, luziden Art, wie in seinen Geschichten die Desillusion, die Entfremdung zu Wort kommt, findet sich die alte Skepsis aber bewahrt.

So pendelt Steiners Prosa zwischen Schwebe und Deutlichkeit, zwischen künstlerischer Fiktion und sozialer Realität. Sein Schreiben erfüllt dabei eine Doppelfunktion: nämlich Wirklichkeit einzufangen, ohne die poetische Utopie zu verraten, die über diese Wirklichkeit hinausweist.

Beat Mazenauer

 

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