Die eigene Erfahrung zur Sprache bringen

Der Max Frisch-Preis der Stadt Zürich 2002 ist an Jörg Steiner vergeben worden

Vor zwei Jahren ist Jörg Steiners jüngster Roman erschienen, "Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch" ; einmal mehr ein Roman, der dünn an Umfang und gross an Gehalt war. Steiner erzählte darin die Geschichte von Goody Eisinger, einem Kauz, der als Museumswärter sein Brot verdient, doch lieber lässt er es leicht angehen. Goody ist ein Lebenskünstler, dessen Leichtigkeit des Seins vom eigenen Bruder misstrauisch beobachtet wird. Nach Goodys plötzlichem Verschwinden forscht er ihm nach. Die eigentliche Ironie dieses „Steckbriefs zum Unkenntlichmachen einer Person“, wie es darin heisst, besteht darin, dass der brüderliche Wahrheitssucher auch nur ein Fabulierer ist. Aus Gehörtem und Erinnertem spinnt er die Legende von Goody, dem lieben Kerl. Ob’s wahr ist, ist unwichtig. Die Gesetze des Erzählens zählen auch für den Bruder. So lässt Steiner am Ende gar beiden Gerechtigkeit widerfahren. "Das Leben, das Geschichten erfindet, ist ein kühner Erzähler; es verweigert Erklärungen“, hat es bereits im Roman „Weissenbach und die Anderen“ (1994) geheissen.

Natürlich wurde Schostakowitsch gespielt, als am 24. März im Zürcher Schauspielhaus der Max-Frisch-Preis an Jörg Steiner verliehen wurde.

Diese alle vier Jahre verliehene Ehrung ist eine besondere Auszeichnung, nicht nur wegen der Preissumme von 50'000 Franken. Unter dem Patronat von Max Frisch sollen Werke ausgezeichnet werden, die "in künstlerisch kompromissloser Form Grundfragen der demokratischen Gesellschaft thematisieren".

Jörg Steiner, nach Tankred Dorst der zweite Preisträger, erfüllt diese Bedingung auf seine ganz eigene, unnachahmliche Weise. Sein ebenso vielgestaltiges wie konsequent fortgeschriebenes Werk, in dem Titel wie "Strafarbeit", "Das Netz zerreissen" oder dieser jüngste Roman herausragen, bezeugt es auf Schönste.

Seit nahezu 50 Jahren erforscht Steiner "die Zwänge und Chancen der modernen Gesellschaft und stellt sie dar aus der Sicht der Bedrängten, aber auch der Trotzigen und Widerborstigen", wie die Jury in ihrer Begründung der Wahl schreibt. Mit dieser Formulierung bekräftigt sie die Verwandtschaft mit Max Frisch - und bedeutet zugleich eine Differenz.

Als der Max Frisch-Preis vor fünf Jahren ins Leben gerufen wurde, war anlässlich der Debatte im Stadtzürcher Parlament kritisiert worden, dass Frisch "immer die Frechheit" gehabt habe, "die Schweiz in den Dreck zu ziehen".

Diesbezüglich erweist sich Jörg Steiner als weit zurückhaltender. In ihm ist die literarische Frageform, die Frisch mitunter mit provozierender Schärfe vortrug, in die Unsicherheit, ins Konjunktivische abgebogen. In ihrer Laudatio wies Beatrice von Matt auf diesen Unterschied hin. Wo Frisch seinen Figuren, den Prozess mache, namentlich Stiller, weil der "kein Ziel mehr hat und der Weltgeschichte nichts mehr anzufügen weiss", ergreift Steiner vorbehaltlos Partei für seine kauzigen Sonderlinge und gescheiterten Existenzen.

Nicht das Richten, sondern Verständnis und Respekt haben Jörg Steiner beim Schreiben seit je her angetrieben, wie er in seiner Preisrede betonte: "nämlich das Eigenartige, das, was in einem angelegt ist, ... das, was einen von den anderen unterscheidet". So kratzt er mit seinen Helden, die Goody Eisinger, Bernhard Greif oder Schose Ledermann heissen, behutsamer am Lack des schweizerischen Wohlbehagens. Zweifel und Widerspruch werden leiser geäussert als bei Max Frisch - doch ebenso beharrlich.

Nie jedoch gleitet Steiner dabei in Rührseligkeit und Sozialkitsch ab. Dafür sorgt seine luzide Sprache, wie Beatrice von Matt sie würdigte. Bei sorgfältiger Lektüre entdecke man "die subtilen Verstrebungen und die unwahrscheinliche Balance der Komposition... die künstlerische Disziplin hinter der komplexen Einfachheit".

Steiner nahm dieses Lob in seiner Rede auf und reichte es an Max Frisch weiter. Sein Werk "war aus Sprache gebaut, aus nichts anderem als Sprache, und der Ausgang war nicht durch Antworten, sondern nur durch Fragen zu finden".

Was er Frisch wohl erzählen würde kehrte dieser aus der Schattenwelt zurück, fragte er: "Ich würde nicht von den weltbewegenden Ereignissen reden. ich würde einfach nur erzählen, wie wir versucht haben, unsere Vorstellung von der Welt zu verteidigen." Steiner würde dies tun mit der heimlichen Gewissheit, dass sich Max Frisch dafür interessieren würde.

Mögen ihre Werke unterschiedliche Strategien verfolgen, treffen sie sich doch in diesem Widerstand gegen Ordnung und voreilige Versöhnung. Manchmal lustvoll, manchmal verzweifelt.

"Die eigene Erfahrung zur Sprache bringen", darin bestehe ihre Gemeinsamkeit, sagte Stadtpräsident Josef Estermann in seiner Begrüssungsrede. Beider Schreiben wollte die Wirklichkeit einfangen, ihre Brüchigkeit hinterfragen, doch ohne die poetische Utopie zu verraten, die über diese Wirklichkeit hinausweist.

Beat Mazenauer

 

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