Entretien avec Peter Weber par Roger Anderegg

«Heimat muss ich mir immer neu erarbeiten»
Sechs Jahre nach dem erfolgreichen «Wettermacher» legt Peter Weber seinen zweiten Roman vor: «Silber und Salbader»

SonntagsZeitung: Peter Weber, können Sie, eine Woche vor Erscheinen Ihres zweiten Romans, noch ruhig schlafen?

Peter Weber: Ja, schon.

Mit dem «Wettermacher» haben Sie die Latte ganz schön hoch gelegt. Jetzt müssen Sie beweisen, dass Sie auch so hoch springen können.

Weber: Oder elegant reissen… (lacht)

Sie haben sich immerhin sechs Jahre Zeit gelassen.

Weber: Ein Roman braucht mindestens drei Jahre, bis er in die Breite gewachsen ist, bis er eine gewisse Fülle erhält. Bis da eine eigene Topografie, eine eigene Welt entsteht. Drei Jahre hätte ich also sowieso gebraucht. Wichtig war mir, dass sich ein Rhythmuswechsel ergeben hat, dass ich nicht meine Stilfiguren wiederhole.

Es sollte auf gar keinen Fall ein zweiter «Wettermacher» werden?

Weber: Ich musste abwarten, bis ich Distanz genug hatte, um neue Bilder zu finden, bis ich eine neue Schicht freilegen konnte.

Eine neue Schicht auch im geologischen Sinne?

Weber: Ja, es gibt erdkundliche Ausführungen. Ich habe mich eingebohrt und eingegraben und geschaut, wie die Schichtungen unter dem Boden aussehen.

Gab es keinen Druck? Der Markt rief ja sehr schnell nach Ihrem zweiten Buch.

Weber: Wenn man sich markthörig verhält, wird man sehr schnell zermahlen werden. Beim Schreiben gelten ganz andere Gesetze: die Suche nach der Substanz. Und das geht langsam.

Auch Ihr Verleger Siegfried Unseld hat lange auf das Buch gewartet.

Weber: Der Verleger hat schon viele Leute schreiben sehen. Er hat mir immer gesagt, ich solle mir ruhig die Zeit lassen, die ich brauche.

Jetzt ist das Buch da. Ist das ein befreiendes Gefühl?

Weber: Nicht wirklich. Ich habe ja schon wieder neue Sachen angefangen.

Das werden dann die Bahnhofsgeschichten?

Weber: Das ist ein eigenes Gebilde, ja. Ich habe schon nach dem «Wettermacher» damit begonnen. Das sind topografiefreie Geschichten, Geschichten ohne Landschaft.

Darin kommt die Landschaft Toggenburg nicht vor?

Weber: Kein Toggenburg, kein Raschtal.

Mussten Sie sich denn vom Toggenburg absetzen, literarisch?

Weber: Im ersten Buch habe ich diese beiden Bereiche ineinander verschachtelt, da gibt es Bahnhofspassagen und Landschaftsprosa. Dann habe ich zuerst den Bahnhofskomplex weitergebaut. Als ich ein Jahr in London lebte, habe ich zahlreiche Bahnhöfe studiert und erst langsam gemerkt, dass ich Topografien benötige. Jetzt kommt der Hauptbahnhof im zweiten Buch nur in einem Satz vor.

Sie benutzen vor allem die Bahnhöfe von Wattwil und Zürich.

Weber: Der Zug bleibt für mich das Hauptfortbewegungsmittel. Es ist eine reibungsfreie Bewegungsart. Man sitzt in getakteten Zügen und bewegt sich in kürzester Zeit durch unterschiedliche, langsam gewachsene Sprachräume. Das finde ich futuristisch.

Ihr Geburtsort Wattwil ist für Sie immer noch sehr zentral?

Weber: Die Toggenburger Landschaft bleibt meine Bezugswelt. Ich kenne da ganz viele Leute, ganz viele Orte, ganz viele Sachen, Stimmen, Jahreszeiten, Abläufe. Ich kann Dinge einschätzen. Ich brauche das zur Orientierung. Und in Zürich habe ich das langsam auch. Zürich ist genauso zentral. Das sind die beiden Pole für mich.

Sehr unterschiedliche Pole.

Weber: Das ist eine sehr belebte Achse. Da gibt es regen Austausch. Ich kenne hier in Zürich viele Leute, die sich oft im Toggenburg aufhalten, und in der Gegenrichtung gibt es das auch. Da spielt ein ständiger geistiger Import-Export. An keinem der Orte habe ich ein Gefühl von Rückständigkeit.

Einen Gegensatz zwischen Stadt und Land gibt es nicht?

Weber: Die voralpinen Gebiete rücken näher an die Agglomeration heran. Aber auch die Stadt verändert sich. Da gibt es Industriebrachen, Zwischennutzung. Industriebrachen gibt es aber auch in den Tälern, und an beiden Orten werden sie innovativ genutzt. Das sind sehr interessante Sachen, es ist ein Austausch von Sauerstoff. Sie müssen nur mal Ulrich Bräkers Schwärmereien über Zürich lesen, aus der Zeit um 1780. Wie er da die Geistesgrössen der Schweiz besucht und das Stadtleben besingt. Ich kenne keine Dur-stärkere Prosa.

Fühlen Sie sich Ulrich Bräker verwandt?

Weber: Wenn ich diese Passagen nachlese, kenne ich seine Regung sehr genau: Wenn man nach Zürich kommt und das Offene erlebt. Auch im Denken. In den Formulierungen. Erst diese Zürcher Welt hat für mich die Dinge ausgelöst und auch gerichtet.

Sie wollten sich nie abnabeln vom Tal Ihrer Herkunft?

Weber: Nein, das wäre mir zu einfach. Der Versuch, diese Räume einander gegenüberzustellen, ist schwieriger - aber auch ergiebiger. So höre ich immer verschiedene Argumentationen, verschiedene Weltvorstellungen, ich habe immer zwei Referenzräume, die passen mal besser zusammen, mal weniger.

Das macht die Welt runder.

Weber: Und sie liegen nur eine Stunde Bahnfahrt auseinander. Wenn ich in Wattwil oder in Ebnat-Kappel einsteige und in Zürich-Hardbrücke aussteige…

Was ist hier in Zürich so anders?

Weber: Hier haben wir zum Beispiel einen offenen Westhorizont. Man sieht also die ganzen Sonnenuntergänge mit den Dämmerungserscheinungen. Das ist ein wesentlicher Unterschied, weil das mittlere Toggenburg einen Süd-Nord-Verlauf hat und dadurch die Abendhorizonte sehr hoch liegen. Da gibt es ganz andere Tönungen.

Sie erleben die Landschaft in ihren Stimmungen?

Weber: Man kann im Toggenburg nach Sonnenuntergang in den Zug steigen, nach dem Rickentunnel taucht man wieder auf und fährt mit der Sonne, die dann langsam untergeht, gegen Westen. Solche Sachen kann man sich erlauben.

Was löst das bei Ihnen aus?

Weber: Ich habe diese Fahrt wahrscheinlich ein paar hundertmal erlebt. Aber es ist jedesmal wieder eine Überraschung. Man verlässt eine Welt und betritt eine andere.

Die Welt der Hektik und des Lärms.

Weber: Hier im Limmattal blickt man auf Zivilisationspaläste, wenn Sie so wollen, auf riesige Lagerhallen, man sieht hier die Einfallsachse der Güter, hier herrscht ein ganz anderer Rhythmus, eine ganz andere Geräuschkulisse.

Wo ist für Sie Heimat?

Weber: In der Sprache. Sie verbindet ja, über die Vorstellungskraft, diese beiden Welten. Heimat muss ich mir immer wieder erarbeiten. Sie ist nicht geschenkt.

Das Toggenburg würden Sie nicht als Heimat bezeichnen?

Weber: Doch, als starkes Bezugsfeld. Aber Zürich auch. Diese beiden Situationen sind für mich Heimat. Im Toggenburg erhalte ich immer wieder Stoff, wie Muttermilch. Es hat sich für mich literarisch nach wie vor nicht erschöpft. Ich schaue mir immer wieder die gleichen Dinge an und lerne sie immer besser kennen.

Auch in Ihrem neuen Roman ist viel Toggenburg drin, auch wenn das jetzt Raschtal heisst. Die Leser werden auf den Landkarten verzweifelt das Raschtal suchen.

Weber: Es ist eine erfundene Landschaft.

Sie kreieren einen eigenen Kosmos, eine abseitige Welt aus Molasse und Muschelkalk, aus Bädern und Kurorten. Was hat Sie in diese Welt geführt?

Weber: Mich haben zum Beispiel die Heilsvorstellungen interessiert, die im Bäuerlichen verankert sind und im Moment so spürbar werden. Solches versuche ich in meiner erfundenen Landschaft zu durchleuchten.

Wie gehen Sie dabei vor?

Weber: Ich spüre den Sachen nach, stöbere die Dinge auf, forsche, reise. Ich rede mit den Leuten, ich frage viel und sammle Material.

Warum soll ich mich als Leser mit der Geologie von Limmattal und Raschtal beschäftigen?

Weber: Was kann man darauf antworten? (denkt lange nach) Weil ich es geschrieben habe. (lacht)

Was hat es mit meiner realen Welt zu tun?

Weber: Ich sehe da schon eine gewisse Dringlichkeit. Im Spannungsfeld Stadt/Landschaft passiert im Moment sehr vieles.

Sie sind sozusagen zum Privatgelehrten geworden und haben alle diese Dinge erforscht. Hilft mir Ihr Buch denn, die Welt besser zu verstehen?

Weber: Eher umgekehrt. (lacht)

Sie sind auch Musiker.

Weber: Als Schreibender ist man monomanisch, ein Einzeltäter. Wenn man Musik macht mit anderen zusammen, ist man agierend gesellig. Das ist wohltuend. Im Moment spiele ich vor allem Maultrommel.

Schreiben ist auch Komponieren.

Weber: Ich muss mir sozusagen zuerst das Instrument bauen, dann die Partitur schreiben, und dann muss ich das Ganze noch spielen. Im letzten halben Jahr spiele ich dann alles nochmals durch. Dann mag ich keine Leute sehen, jedenfalls keine Leute, die mich fragen: «Was machst du gerade? Woran schreibst du?»

Wenn Sie am Schreiben sind, schotten Sie sich ab gegen die Aussenwelt?

Weber: Im ersten Jahr sind drei Stunden Schreiben am Tag schon viel. Da habe ich die Vorstellung von etwas Dunklem, Ungestaltem. Je weiter ich dann vordringe, desto heller wird es, desto länger schreibe ich, desto grössere Strecken kann ich bewältigen.

Schreiben können Sie überall?

Weber: Ja. Ich brauche nicht viel. Einfach einen Quadratmeter Platz - und Ohropax.

Und eine Schreibmaschine. Sie schreiben noch nicht auf dem Mac?

Weber: In der Phase der Stoffgewinnung nicht. Da muss ich ganz zwingend auf der mechanischen Schreibmaschine arbeiten. Auf einer Hermes Media, die hat wunderbar gefederte Tasten, für mich ist das ein Wunderwerk der mechanischen Welt. In einer späteren Phase arbeite ich dann am Bildschirm. In meiner Erfahrung verleitet der Bildschirm eindeutig zur Salbaderei. Die Texte werden schummrig. Da ist es wichtig, dass man mit gespitztem Feinstrich diese Bildschirmtexte abschreckt.

Verstehen Sie sich als Schweizer Schriftsteller?

Weber: Die Sachen, die ich bis jetzt geschrieben habe, spielen in einer Umgebung, die typisch ist für die Schweiz. Aber das Wort Schweiz hat für mein Schreiben keine Bedeutung. Das Deutsch, das ich schreibe, ist natürlich als schweizerisch gefärbt zu erkennen.

Als toggenburgisch gefärbt sogar?

Weber: Ich empfinde es als Reichtum, Dialekt und Hochsprache zur Verfügung zu haben. In Norddeutschland hat die Sprache einen ganz anderen Schwung, wenn sie die weiten Horizonte bestreicht, auch rhythmisch ganz anders verläuft. Wenn ich in Norddeutschland eine Lesung habe, erscheine ich den Leuten als Exot. Meine Welt wirkt auf sie sonderbar.

Ist Ihnen dieser Raum nie als zu eng erschienen?

Weber: Ich habe ja zwei gegensätzliche Räume, und in denen wird es mir nicht langweilig.

Sind Sie ein politischer Mensch?

Weber: Was ist für Sie ein politischer Mensch?

Jemand, der das Bedürfnis hat, die Entwicklungen der Zeit bewusst wahrzunehmen und an ihnen teilzuhaben.

Weber: Ich reagiere nur selten direkt und unmittelbar auf Dinge. Eine Einmischung kostet Nerven und zieht Energie ab. Ich will mich nicht verzetteln.

Von einem Schriftsteller erwartet man gerne ein paar klärende Worte zur allgemeinen Weltlage.

Weber: Ich nicht. Andere können das besser.

Ein Wort zum Flüchtlingselend im Kosovo oder in Osttimor oder etwas zu den bevorstehenden eidgenössischen Wahlen - das bekommen wir von Ihnen nicht?

Weber: Nein. Was soll ich denn dazu sagen? (denkt lange nach) Die Sportler sollen sich doch endlich mal zu Wort melden. (lacht)

Lesen Sie die Bücher Ihrer Kolleginnen und Kollegen?

Weber: Wenn ich am Schreiben bin, lese ich sehr wenig - ausser Sachtexte, die mit meiner Arbeit zu tun haben. Wenn ich den Kopf wieder frei habe, lese ich gern die Texte von Leuten, die ich kenne. Da bin ich gerne auf dem Laufenden.

Verfolgen Sie, was jetzt im Bücherherbst erscheinen wird?

Weber: Ja. Am liebsten sehe ich Bücher entstehen oder rede mit Leuten, die auch an ihren Büchern arbeiten.

Gibt es Autoren, die Sie besonders mögen?

Weber: Ich habe eine Vorliebe für Leute, die Spracharbeiter sind.

Was heisst das? Geben Sie uns ein Beispiel?

Weber: Namen werde ich Ihnen keine nennen.

Jetzt werden die Medien Sie bestürmen. Bereitet Ihnen die Aussicht, im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen, Unbehagen?

Weber: Beim Schreiben selber erlebt man sämtliche Befindlichkeiten. Was nachher kommt, kann gar nicht extremer sein. Verrückt ist einfach dieser Wechsel von der totalen Vereinzelung beim Schreiben in eine Wahrnehmungswelt, in der dann plötzlich sehr viele Leute vorhanden sind und wo eine starke Multiplikation stattfindet, aber meistens eine unpräzise. Da entstehen Unschärfen, und damit habe ich Probleme.

Fühlen Sie sich denn oberflächlich behandelt?

Weber: Nicht nur. Ich erlebe auch sehr lehrreiche Resonanz. Wenn jemand Dinge erkennt, die mir selber verborgen waren. Und Kritik empfinde ich als ganz wichtig.

Beim «Wettermacher» haben Sie sich gegen das Abbild gewehrt, das die Medien von Ihnen zeichneten.

Weber: Ja, weil dieses Abbild mehr mit der abbildenden Instanz zu tun hatte, mit den Erwartungen und Bedürfnissen der Medien, und weniger mit mir.

Und das stört Sie?

Weber: Es beginnt mich zu stören, wenn sich diese Erscheinungsbilder verselbstständigen, das Ganze sich potenziert und zu wuchern beginnt.

Was tun Sie dagegen?

Weber: Ich habe zum Beispiel einfach begonnen, Falschmeldungen zu streuen, bis sich das von alleine wieder regulierte.

Sie könnten ja auch ein bisschen mehr von sich preisgeben - in Form eines intimen Interviews oder einer Homestory.

Weber: Solche Sachen mache ich nicht. Grundsätzlich arbeitet man ja künstlerisch, weil man das Bedürfnis hat, sich die Welt selber zu gestalten. Wenn da nun plötzlich andere mitgestalten, widerstrebt mir das zutiefst.

Immerhin wollen Sie ein Buch verkaufen und brauchen Publizität.

Weber: Es gibt die Form der Lesung, und die ist mir am liebsten. Denn da bestimme ich selber, wohin ich gehe, was und wie ich lese.

Ihre biografischen Angaben sind sehr karg. Wie sieht Ihr familiärer Hintergrund aus?

Weber: (schweigt lange) Darüber habe ich noch nie geredet. Das will ich auch weiter so halten.

In Ihrer Biografie klafft zwischen 1968, als Sie geboren wurden, und 1993, dem Erscheinungsjahr des «Wettermachers», ein Loch. Dazwischen wissen wir nichts.

Weber: Ich auch nicht. (lacht) Aber ich kann Ihnen schon ein paar Sachen sagen: Ich habe in Wattwil die Kantonsschule besucht und bis 19 viel Basketball gespielt. Dann kam ich nach Zürich an die Uni und habe zu schreiben begonnen. Das Schreiben wurde wichtiger als das Studium. Und durch den «Wettermacher» hat sich der Beruf gefestigt. Seither bin ich freischaffend.

Was hätten Sie denn studieren wollen?

Weber: Ich habe mir vieles angeschaut, aber nichts systematisch. Und dann habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr Wissen brauchte, sondern eine eigene Sprache bauen wollte, die meine Situation widerspiegeln könnte.

Wie leben Sie heute?

Weber: Im immer gleichen Freundeskreis. Das ist wichtig für mich. Wenn ich geschrieben habe, möchte ich wieder ganz normale Dinge tun, ganz unspektakuläre Sachen.

Wie was?

Weber: Zum Beispiel Pilze suchen gehen. Das werde ich heute Nachmittag tun.

Da könnten Sie uns ja einen schönen Standort verraten.

Weber: (denkt lange nach) Bei Ras im Raschtal. Da finden Sie die weissen Raslinge.

Roger Anderegg

 

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