Das Rätsel des Pardon ll
Yvette Z'Graggen, über die seelischen Spätschäden des Nationalsozialismus
Ohne Rücksicht auf Proteste im eigenen Land hatte der französische Staatspräsident François Mitterrand in seiner Berliner Rede zum 50. Jahrestag der Niederlage des Nationalsozialismus Versöhnliches von sich gegeben: die ersten Opfer seien Deutsche und die Soldaten der Wehrmacht in ihrer Mehrheit keine Verbrecher, gewesen. Für die Genfer Autorin Yvette Z'Graggen war das nicht neu: "Ich bin kein Verbrecher" hatte ihr schon 1947 Herbert, ein 25jähriger deutscher Soldat, den sie kurz vor Ausbruch des Kriegs in Genf kennengelernt hatte, nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft geschrieben. Ein halbes Jahrhundert später, im Frühling 1995, scheint dieser Satz Yvette Z'Graggens - mittlerweile ins Deutsche übersetztem -Roman "Matthias Berg" zugrunde zu liegen, einer erschütternden Aufarbeitung der seelischen Spätfolgen von Krieg und Totalitarismus. Matthias Berg, Anfang zwanzig, er könnte Herberts Alter ego sein - heiratet kurz vor dem Überfall der Wehrmacht auf Polen. Einer der vielen vom Hitlerregime missbrauchten jungen Männer, die nicht für Hitler waren, aber auch nicht im Widerstand organisiert waren. Opfer eben und keine Täter, darüber lässt Yvette Z'Graggen keinen Zweifel aufkommen. Tatsächlich scheint sich Bergs Weltsicht in ihrer Banalität und Menschlichkeit auf einen Gedanken zu beschränken von der Front in Russland lebend zu seiner Frau Beate heimkehren zu können. Als er 1948 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, ist von der Liebe nichts mehr übriggeblieben Schlimmer gar: Beate, die in einer Widerstandsgruppe Juden das Leben gerettet hatte, verdächtigt Matthias, in Russland an Kriegsverbrechen der Wehrmacht teilgenommen zu haben.
Beates Verdacht steigert sich in einen Verfolgungswahn, aus dem sie sich nur noch durch Selbstmord zu befreien weiss. Zu diesem Zeitpunkt ist die gemeinsame Tochter Eva bereits mit ihrem Hass auf Matthias Berg infiziert. Bald bricht auch sie zum Vater alle Brücken ab. Später wird Eva - sie ist mittlerweile in Genf verheiratet - ihrer Tochter Marie die Existenz des Grossvaters verschweigen. In Eva wandelt sich die Scham, einen vermeintlichen Nazi zum Vater zu haben, in unauflöslichen Selbsthass, der auch sie schliesslich in den Freitod treibt. Fassungslos sieht sich Marie selbst in den Fangen einer Spirale aus Hass und Vorurteil. Entschlossen, den Teufelskreis zu durchbrechen, fährt die junge Frau im Juni 1994 nach Berlin, um ihren Grossvater zu suchen. - Den Befehl verweigern, desertieren das haben viele mit dem Tod bezahlt. "Wie soll man darüber urteilen und mit welchem Recht?" fragt sich Marie,"als sie, ohne sich anfangs zu erkennen zu geben, ihren Grossvater bei einem seiner Spaziergänge unweit des Kurfürstendammes beobachtet. Die Schlüsselfrage des Romans ist hier gestellt: Wie geht die Generation der Kinder mit der Schuld - und den Schuldgefühlen - ihrer Eltern und Grosseltern um? In einer Peripetie gibt Yvette Z'Graggen die Antwort. Mit dem überraschenden Tod des greisen Mannes in der Nacht vor der verabredeten Begegnung mit Marie bricht die Autorin eine falsche Erwartung im Leser auf und setzt das entscheidende Zeichen: Nicht im Gespräch über Schuld, sondern in ihrer Bereitschaft, den Grossvater als deutsches Erbe, als Teil ihrer Identität zu akzeptieren, spiegelt sich Maries Wille wider, die Mitverantwortung für eine vom Hass befreite Zukunft zu übernehmen.
Trotz der klaren Botschaft lastet eine eigentümliche Unentschiedenheit auf dem Roman. Was sich Matthias Berg in Russland wirklich zuschulden kommen liess, erfahren wir nicht. Marie erfährt, dass er einen russischen Partisanen getötet habe - um nicht selbst getötet zu werden. Auch von russischen Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung ist die Rede. Das Böse wird in seiner Eigendynamik dargestellt, das Recht der Deutschen auf Mitgefühl kann so eine Legitimation erfahren. In der nur eineinhalb Jahre nach "Matthias Berg" erschienenen autobiographischen Chronik "Ciel d'Allemagne" verleiht die Autorin dieser Position scharfäre und zugleich persönliche Konturen. Fokussiert ist der schmale Band auf die erwähnte Brieffreundschaft mit dem Wehrmachtssoldaten Herbert zwischen 1939 und 1949. Eindrücklich wird sowohl Z'Graggens Sensibilität für seinen Anspruch auf Achtung und Freundschaft erkennbar wie auch ihre moralische Kraft, diese sogar aufrechtzuhalten, als sie in ihrer Funktion als Mitarbeiterin des Internationalen Roten Kreuzes von den Verbrechen in den Konzentrationslagern erfuhr. Ein mutiger Spagat.
Yvette Z'Graggen: Matthias Berg, Lenos-Verlag, Basel 1997. 109 S., 28 Fr.. - Ciel d'Allemagne. Editions de l'Aire, Vevey 1996. 128 S., 24 Fr.