Matthias Zschokke ist ein Hans Dampf in allen Gassen. Sein literarisches und filmisches Werk zeugt von einem Temperament, das die traditionellen Formen hinterfragt. In seinem Roman "Der dicke Dichter" schreibt er diese Versuche fort, doch weniger verspielt, pfiffig und radikal.

Der dicke Dichter
Eine Liebeserklärung an Berlin

Mit Lust und Witz verrichtet Matthias Zschokke in seiner Prosa eine literarische Abbrucharbeit. Er hintertreibt das konventionelle Erzählen und raubt den Figuren jegliche Identität. So vermag es keine wirkliche Fiktion mehr zu erzeugen, stattdessen geraten Kunst und Leben unentwirrbar durcheinander. Auch in "Der dicke Dichter".

1980 hat sich Zschokke nach Berlin aufgemacht, weil er sich wie sein Held Max nicht an die "Selbstkasteiungsregeln" zuhause halten mochte: ein Freibeuter auf der Suche nach einem "Schiffbruchsort". In Berlin lebt ebenfalls der dicke Dichter: eine Mischung aus trägem, gemütlichem Oblomov und dem korpulenten Dichterkauz Günter Bruno Fuchs.Dessen poetisches Symbol war der Vogel, der vogelfrei über die beamtete, beschränkte Ordnungswut der "schönen Gesellschaft" hinwegfliegt.

Immer wieder zitiert auch Zschokkes Dichter Vögel oder Katzen und Schmetterlinge herbei, um mit ihnen stille Zwiesprache zu halten. Sie verkörpern einen Zauber, den diese Metropole aller Hektik zum Trotz atmet und dem der dicke Dichter mit ganzer Aufmerksamkeit nachspürt. Aber eigentlich ist er ja längst tot: "Was hier vorliegt, ist sein Nachlass", bedeutet uns der Erzähler geheimnisvoll. Wie er es sich wünschte, starb er so leise, dass "niemand sein Fehlen bemerkte".

Geschichten lügen immer

Der dicke Dichter liebt die Einsamkeit der Stadt und hält sie aus. Ein paar Briefe an einen Freund und eine Geliebte durchbrechen die Isolation. Und natürlich Severinchen, die von ihm immer wieder schöne Geschichten hören will. Ihr erzählt der Dichter dies und jenes, schweift ab, "treibt Wörter vor sich her" und stockt angesichts ihrer Falschheit.

Zu richtigen Geschichten kann sein Erzählen nicht gerinnen, weil Worte lügen. Aber ebenfalls, weil es dem Dichter missfällt, längst geschriebene Bücher nachzuahmen und "irgendwann zweihundert Seiten voll zu haben". Daran scheitert auch sein Vorhaben eines "zeitgemässen Grossstadtromans". Wachen Sinnes hält er sich allein an paradoxe Erscheinungen und ephemere Geschehnisse seiner Umgebung. Zschokke hilft sie einzufangen.

Auffallend ist, dass er sich dabei sichtlich zurückhält. Es fehlen hier die grossen Worte, die den frühern Romanen eine ironisch gebrochenes Pathos der Vergeblichkeit einbeschrieben haben. Auch im Tonfall zeigt sich "Der dicke Dichter" intimer, ruhiger: eine träumerische Liebeserklärung an den profanen Alltag in Berlin.

Freilich überzeugt sie nicht in allen Teilen. Feinsinnige Beobachtungen und poetische Einfälle wechseln ab mit Bildern und Szenen, die bekannt wirken, Büchern entliehen scheinen, die der dicke Dichter schützend zwischen sich und das Leben schiebt. Die Polarität von Distanz und Nähe, die dessen Verhältnis zur Stadt prägt, wohnt auch Zschokkes Prosa inne. Sie verfügt nicht ganz über jene Palette an Berliner Klangfarben wie etwa die schelmischen Fabeln von G. B. Fuchs.

Matthias Zschokke: Der dicke Dichter. Roman. Bruckner & Thünker Verlag, Köln / Basel 1995. 178 Seiten.

Beat Mazenauer

 

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