Roger Francillon und sein 25 köpfiges
Forscherteam haben kürzlich den vierten und letzten Band der monumentalen
" Histoire de la littérature en Suisse romande " vorgelegt.
Er deckt die Zeit zwischen 1970 und 1998 ab und ist in diesem Jahrhundert
die einzige umfassende Darstellung der französischen Literatur
der Schweiz.
Trotz zu erwartenden
Empfindlichkeiten der heutigen Literaturszene in der Romandie zeigt
Roger Francillon, Professor für französische Literatur an
der Universität Zürich und Herausgeber der " Histoire
de la litérature en Suisse romande ", im vierten Band Mut
zur Lücke. Von den 665 gezählten Autorinnen, die zwischen
1970 und 1998 wenigstens ein belletristisches Buch publizierten (Eigenverlag
nicht berücksichtig), finden " nur " 163 Eingang in den
Band. Eine freilich immer noch hohe, kaum zu bewältigende Zahl,
der man leider, im Vergleich mit drei vorausgehenden Bänden, nicht
mit einer Erweiterung des Umfangs Rechnung getragen hat. So wirken manche
Werkbiographien, aber auch Beiträge zu einzelnen Bereichen des
Literaturbetriebs Theater, Verlagen, Archiven und Literaturkritik
sehr gedrängt und skizzenhaft.
Avantgarde der Frauen
Wie bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg
sind es erneut die Prosaistinnen, welche in den achtziger Jahren die
Avantgarde bilden. Demonstrativ lösen sie sich von Westschweizer
Stoffen und Themen und stellen bisweilen provokativ ihre Texte in den
Dienst einer unerbittlichen Gesellschaftkritik. Monique Laederach ("
La femme séparée ", 1982) und Anne-Lise Grobéty
(" Zéro positif ", 1975) denunzieren die Benachteiligung
der Frau als Folge der sozialen Umschichtungen der siebziger Jahre.
Monique Laederachs Erzählung " Trop petits pour Dieu "
(1986) gehört zudem mit dem bedrückenden Kriegsroman "
Et Saint-Gingolf brûlait " von Henri Deblüe (1977) zu
den ersten Texten, die sich, freilich mit weitaus geringerem Echo, als
dies heute der Fall gewesen wäre, mit den Befindlichkeiten der
Schweiz im Zweiten Weltkrieg kritisch auseinanderssetzen.
Andere Autorinnen optieren in den achtziger Jahren
für eine neue Form der Innerlichkeit und schreiben über Einzelschicksale
: Die Genferin Catherine Safonoff etwa mit den Prosacollagen "
Retour, retour " und " Comme avant Galilée ",
Sylviane Roche in " Salon Pompadour " und Marie Claire Dewarrat
mit dem Roman " Carême " erzählen von einer schmerzvollen
Rückkehr in die Kindheit oder von der tragischen Zerstörung
individueller Lebenspläne. Charles Ferdinand Ramuz Vorstellung
einer sich von Paris emanzipierenden Literatur, welche vor allem die
Lebensgefühle der Romandie widerspiegle ein Konzept, das
der mit den Grossen der europäischen Literatur in Verbindung stehende
Romancier Jacques Mercanton bereits in den Fünfziger Jahren vehement
ablehnte -, schien sich nun endgültig überlebt zu haben. Heute
beschränkt sich die Nabelschau auf einige schriftstellernde Gymnasiallehrer,
die freilich für ihre Stimmungsbilder aus der Enge ihres sozioprofessionellen
Umfeldes eine anhängliche Leserschaft finden.
Narreteien
So legt denn auch dieser vierte Band ein besonderes
Augenmerk auf Westschweizer Autorinnen und Autoren, die in Pariser Verlagen
publizieren. Gewürdigt wird der Mut zum Unerwarteten, zum rascheren
Paradigmenwechsel, mit dem diese Autoren überraschen. Jean-Luc
Benoziglio und Bernard Comment, beide in Paris ansässig, setzen
wie bereits Robert Pinget in den fünfziger und sechziger Jahren
ihren Protagonisten das Narrenkäppichen auf, das jahrzehntelang
aus der zur Humorlosigkeit neigenden Literatur der Romandie verbannt
schien. In Benoziglios Romanen verbergen sich Wut und subjektives Leiden
hinter der Maske haltlosen Lachens : und Bernard Comment pflegt mit
satirischem Witz den Gestus der Aufklärung über totalitären
Zwang in demokratischen Staaten. Staats und Politikschelte als
eine Form des literaschen Engagements zielen nicht mehr allein auf die
Schweiz, sondern reflektieren die diffuse Angst vor einer auf Opfer
und Macht gegründeten postindustriellen Wissengesellschaft, deren
Streben nach Gerechtigkeit so sieht es der Genfer Yves Laplace
in seinem bemerkenswert analytischen Roman " On " (1992)
nur ein gespieltes ist.
Das Vertrauen in das gesellschaftliche Kollektiv
als sinnvermittelInde Instanz ist verlorengegangen. Spürbar wird
dies auch in der Lyrik : In den neueren Gedichten von Pierre Voélin,
José-Flore Tappy, Sylviane Dupuis und Frédéric
Wandèlère zieht sich ein auf der Suche nach Orientierungen
umherirrendes lyrisches Ich schliesslich in die Geborgenheit des Privaten
zurück. Diese scheint dem jungen, talentierten Genfer Theaterautor
Olivier Chiacchari allerdings kein Trost mehr zu sein. In seinem Stück
" Le Drame " (1997) ist die Last des täglichen Lebenskampfes
so gross, dass eine Familie " vergisst ", über den toten
Sohn zu trauern.
Das Vermächtnis von Coppet
Wollte man eine wesentliche Qualität aller
vier Bände dieser Literaturgeschichte hervorheben, so ist es wohl
jene, dass sie in selektiver Form die Kräfte in den Vordergrund
stellen, welche das geistige Leben der französischen Schweiz entscheidend
beeinflusst und erneuert haben : Viele von ihnnen waren nur Gäste
in der Romandie wie Rousseau und Madame de Staël oder sind wie
Benjamin Constant, Blaise Cendrars, Charles-Albert Cingria ewige Grenzgänger
zwischen der Heimat und der Fremde gewesen.
Andere fanden in Genf oder Neuenburg nach langer
Flucht endlich zur Ruhe : Calvin etwa, Albert Cohen oder Agota Kristof.
Robert Pinget oder Jean-Luc Benoziglio kehrten der Westschweiz ganz
den Rücken. Ein jedes Jahrhundert, das diese Literaturgeschichte
nachzeichnet, lässt erkennen, wie sehr das literarische Leben zwischen
Jura und Simplon, Genfersee und Saane fremde Einflüsse aufnahm
und seinerseits die Fremde befruchtete. Denis de Rougemont wurde Stendhals
berühmtes Urteil über Madame de Staëls Kreis in Coppet,
dort herrsche " die europäische Meinung ", zum Vermächtnis.
Mit seiner brillanten proeuropäischen Essayistik löste er
es ein. Das alles mag nicht neu sein, aber Francillons Literaturgeschichte
verleiht den Dingen in der Zusammenfassung eine neue, aktuelle Intensität.
In dem Masse, wie mit diesem Werk gleichsam en
passant auch die erste veritable politische Geschichte der gesamten
französischsprachigen Schweiz gelingt (tatsächlich existieren
in der Westschweiz bisher lediglich einzelne Kantonsgeschichten), wird
sichtbar, dass der Geist des grenzüberschreitenden Denkens immer
auch die politischen Institutionen der Romandie anwehte bis zum
heutigen Tag.
Michaël Wirth
21.12.99
Histoire de la littérature en Suisse romande,
en quatre tomes publiés sous la direction de Roger Francillon.
Editions Payot, Lausanne.
Tome I : Du Moyen Age à 1815. 1996. 434 S., Fr. 69.-
Tome II : de Topfer à Ramuz. 1997. 544 S., Fr. 69.-.
Tome III : De la Seconde Guerre mondiale aux années 1970. 1998.
566 S., Fr. 69.-.
Tome IV : La littérature romande aujourdhui. 1999. 514
S., Fr. 69.-
Page créée le 01.10.01
Dernière mise à jour le 01.10.01