Michel Mettler

Michel Mettler, geboren 1966 in Aarau, lebt als Autor, Dramaturg und Musiker in Brugg (Schweiz). Seit längerem ist er als Performer seiner Texte mit befreundeten Autoren und Musikern unterwegs.
Die Spange ist seine erste Buchveröffentlichung (2006, Suhrkamp).

Der Text ist entstanden im Rahmen von "vialitterale", einem mehrteiligen Literatur-Projekt zum Thema "Tunnel / Tunnelbau". Nähere Informationen darüber gibt es auf der Webseite http://www.pro-helvetia.ch/vialitterale/

 

Bergendes Dunkel

Ich sehe auf die riesigen schwarzen Schuhe des Vaters. Er winkelt sie leicht an, um im Abteil nicht zu viel Platz zu versperren. Diese Relikte aus dem Militärdienst sind von solcher lederner Wucht, dass ich einen Begriff von der Last des Erwachsenseins kriege, wenn ich sie im Gartenschuppen je links-rechts in Händen wiege. Hier aber, an des Vaters Füssen im Zug, tun sie, was sie seit jeher tun: Sie zeigen den Beginn der Sommerferien an, sie künden von Gipfelluft und Wanderwetter.
Das SBB-Grün der Siebzigerjahre, das Kaisergelb des Segeltuchrucksacks, das baumwoll-rohe Khaki des väterlichen Hemds, in dem er manchmal bildhaft von historischen Wüstenschlachten erzählt - diese gesamte militärisch grundierte Farbenlehre ist untrennbar mit den familiären Sommerurlauben verbunden. Sie beginnen stets im Bahnhof von Aarau, einer ferrovialen Vorzugslage zwischen Basel und Zürich, übertroffen nur noch von Olten, dem eisenbahnerischen Zentralgestirn.
Militärdienst und Wanderei, diese beiden Kernbereiche der Vaterwelt werden bald schon enggeführt sein, wenn wir im Innern der Massive unserem Ziel entgegendonnern, dem Puschlav - dann also, wenn sich der Zug in meinem Kopf dem ›Réduit‹ nähert, jenen fabulösen Festungsbunkern, die aus dem Alpenfels gehauen sind. In ihren dunklen Bäuchen, denke ich, am Grenzpunkt zwischen bekannter und unbekannter Welt, müssen die Frontkämpfer der Heimatliebe auf ihren Einsatz warten.
Mit dem Begriff des ›Réduit‹ untrennbar verbunden ist dem Knaben die Vorstellung, dass am andern Ende der grossen Tunnel das Ausland liegt, mehr noch: das Ende der Welt. Wenn die frühen Geografen glaubten, am Rand der Erdscheibe müsse das Meerwasser ins Leere stürzen, so denkt sich der Knabe jenseits der Berge ein Entfallen all dessen, worauf er baut. Ein Anbrechen ganz neuer Verhältnisse sieht er kommen, wo das Dunkel des Tunnels sich öffnet in eine noch unbeschriebene Welt - nie gesehene Farben, andersartige Tiere, nicht endende Horizonte von schwarzem Schnee...
Noch steht der Zug aber im Aarauer Bahnhof unter einer sekündlich vorrückenden Uhr, die kostbare Ferienzeit zerrinnen lässt, und ich rutsche erwartungsfroh auf dem Bezug meines Zweitklassitzes herum. Die Dramaturgie der kommenden Reise kenne ich längst auswendig - am Walensee wird sie eine erste Zuspitzung erfahren, den Höhepunkt aber erreicht sie erst, wenn es unter die Erde geht.
Ein Zauberwort in diesem Zusammenhang lautet ›Landwasser-Viadukt‹. Als Objekt weltweiter Bewunderung ist es ein sicherer Wert der schulischen Heimatkunde, die Nationalstolz und Ehrfurcht vor der Natur lehren will. Doch einmal im Jahr verspricht das Viadukt dem Jungen, der mit seiner Bahnerfahrung in den autoverrückten Siebzigerjahren bereits am Rande steht, ein konkretes Schienenerlebnis. Hier wird man nämlich, aus dem finsteren Berg kommend, direkt in die Luft katapultiert, während tief unten ein Bergbach seinen Weg durch die Schlucht zieht und der Blick, noch trunken vom jähen Licht, den scheinbar endlosen Brückenpfeilern in die Tiefe folgt - Beine eines steinernen Überwesens, das mit dem Zug auf seinem Rücken südwärts zieht.
Doch der eigentliche Wendepunkt der jährlichen Reise steht hier noch aus. Bis dahin gilt es, in klammen Kehren den Fels zu durchkurven. Auch dieses Erlebnis hört auf einen klingenden Namen der Schienenkunde: ›Kehrtunnel‹. Ein krauser Begriff für den Knaben, dem gerade die Umkehr im Stollen das Undenkbarste ist. Nur das gradlinige, schnellstmögliche Durcheilen der Schwärze kommt ihm erträglich vor. Doch das Wort ›Kehrtunnel‹ meint wohl, dass der Zug es sich im Gestein gemütlich macht, dass er Graniteingeweide durchfährt, Hirnwindungen des Berges - dass er so lange Schlaufen durch den Fels zieht, bis aller Ordnungssinn entschwunden ist.
Um etwas Übersicht zurückzugewinnen, will ich von aussen betrachten, wie dieses Eisending, in dem wir sitzen, als ungelenker Aal den Berg durchrattert, das Dörflein mal auf der linken, mal auf der rechten Zugsseite erscheinen lassend. Ich stelle mir den Weg bergauf als Darmverschlingung eines Riesen vor: Unsere Aufgabe ist es, nach oben zum Mund zu finden, der sich für uns öffnen, uns ausspucken wird...
Doch jedes weitere Eintauchen in bergendes Dunkel wirft einen neuen Schatten der Beklemmung über mich. Die Furcht, die meine Hand nach derjenigen des Vaters tasten lässt, rührt von einer wiederkehrenden Erfahrung her: Ich liege abends im Bett und spüre, wie die mütterliche Hand, die über meinem Gesicht ruhig die Decke zurechtzieht, meinen Geist hinüber ins Traumreich führt. So früh und schnell sinke ich hinab, dass ich kaum bemerke, wie die Mutter den Raum verlässt. Nun aber kann es geschehen, dass ich, kaum ist sie entschwunden, unzeitig aus dem frühen Schlaf erwache. Benommen liege ich da, annehmend, dass es Morgen sei. Dann aber zeigt ein Blick zur Uhr, dass noch kaum eine halbe Stunde verstrichen ist, seit die Beschützerin gegangen ist - dass also die Nacht in fast voller Länge noch vor mir liegt. Nun kommt mir diese Dunkelstrecke unermesslich vor. Ohne den Beistand des Schlafs werde ich sie kaum überstehen. Der Hals wird mir eng, an Nachtruhe ist nicht mehr zu denken, schon nach Minuten hat die Angst meinen Stolz bewungen, und ich suche das Zimmer der Mutter auf, um an ihrer Seite den Schlaf wiederzufinden, nicht achtend, dass ich unlängst, bei Lichte besehen, ein grosser, selbständiger Knabe sein wollte, ein Kämpfer ohne Furcht.
Der inzwischen Neunjährige schnuppert von der muffigen Tunnelluft, blinzelt zum Licht der Deckenfunzel hoch. Das Schlagen der Räder klingt hohl, die Stollenwände werfen sich Fahrgeräusche zu, schleudern sie an die Wagenscheiben. Die Finsternis kocht Lärm. Wird es diesmal anders sein, frage ich mich, während meine Hand die väterliche umklammert: Wird diese Nacht, die Nacht des Berges, sich wieder zur Tagwelt hin öffnen, ohne dass ich im Haarduft der Mutter Zuflucht suchen muss?
Vom Landwasser-Viadukt her zieht sich eine malerische Strecke talaufwärts, eingebettet in steilgrüne Hügel, überzackt von den ersten Dreitausendern. Dies alles, weiss der Knabe, ist nur Einstimmung für jenen kühnen Durchstich, der auf beträchtlicher Höhe sein graues Maul öffnen wird, ehe man gegenüber durchs blitzende Lichtportal die südliche Welt betritt.
So wird der Albula zum Tunnel der Tunnel, zur Mutter aller Felsdurchstiche, schon seines grollenden A - U - A wegen - ein Bauwerk, das offenbar die Macht besitzt, selbst das Wetter dies- und jenseits der Bergkette zu bestimmen. So jedenfalls legt der Knabe es sich zurecht, wenn der Zug in ein strahlend klares Engadin einfährt, das sogleich alle Erinnerung an die trübe Gegenseite verwischt. Der Knabe aber, nur wenige Tage später, wenn Regen im Puschlav das Wandern verhindert, sitzt in seinem Kajütenbett und träumt über die karierten Laken hinweg vom ewig besonnten Engadin und den geheimnisvollen Vorgängen, mit denen im Albulainnern, in der genauen Tunnelmitte, der neblichten Nordluft Feuchte entzogen und Leuchtkraft beigefügt wird - jener Luft, die dann aus der Hauptröhre und den diversen Abluftstollen das südliche Hochtal speist.
Wird in der Tunnelmitte eine Wetterküche betrieben? Grosse Luftpumpen? Ist der Albula ein Wandler von Wirklichkeit?
Der Knabe liegt nachmittags unter der Armeedecke seines Puschlaver Kajütenbetts. Er hört den Regen aufs Steindach der Hütte prasseln und denkt über die Anreise nach. Er versucht sich den Verlauf der Täler, Bergketten und, quer dazu, der gestrichelten Linien vorzustellen, mit denen auf den Karten die Tunnel verzeichnet sind. Dieser Albula - was ist so besonders an ihm? Ist es dieser geheimnisvolle Wetterwechsel, der ihn so aufregend macht? Der Wandel der Luftmassen lässt kühne Vermutungen zu. Vielleicht ist das Albuladunkel weltweit einzigartig, dem Wasser eines Jungbrunnens verwandt, der aus Herbst Frühling macht? Jedenfalls scheint ihm eine Kraft innezuwohnen, wie sie sonst nur Zaubersprüche oder magische Arzneien besitzen.
Über diesem Gedanken sinkt der Kopf des Knaben zurück, und er fährt in den steiler werdenden, endlos scheinenden Schacht des Schlafes ein.

Bleibt nachzutragen, dass ich im Traum noch heute vor die abluftgeschwärzten Portale pilgern muss, über deren Scheitel als unsichtbares Motto steht: "Das Leben ist eine Torte, durch die man sich frisst. Und wir alle sind Tunnelbauer im Grunde - von Kopf bis Fuss auf Unterquerung eingestellt."

Michel Mettler