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Satire und Ernst an den 10. Rätoromanischen Literaturtagen

 


Der Abstand zu sich selbst
Satire und Ernst an den 10. Rätoromanischen Literaturtagen

Es sollte an diesem Wochenende ein kleines Jubiläum gefeiert werden, denn die Rätoromanischen Literaturtage wurden vor genau zehn Jahren aus der Taufe gehoben. Doch der plötzliche Tod von Flurin Spescha vor vier Wochen legte einen Trauerflor über die Dis da Litteratura in Domat/Ems. Für den Freitagabend war eilends eine Hommage an den Verstorbenen ins Programm genommen worden. Zu Herzen ging angesichts der Plötzlichkeit dieses Todes Rita Catrina Imbodens Lesung ihrer bereits 1983 entstandenen, augenzwinkernd feinfühligen Kurzprosa "Auf die Sekunde", eine liebevoll satirische Parabel auf Speschas sich selbst auferlegte Pflicht, jede Sekunde des Lebens bewusst zu leben.

Bereits 1994 hatte Flurin Spescha - einem Vermächtnis gleich - die Richtung vorgegeben, die heute aus den Dis da Litteratura eine der anspruchsvollsten Literaturveranstaltungen der Schweiz macht : die Rätoromanen, so Spescha damals, müssten aufhören, die rätoromanische Sprache retten zu wollen, sie müssten sie leben. Es gelte Fenster und Türen zu öffnen, um ja zu sagen zur gelebten Zweisprachigkeit. So stand denn auch dieses Wochenende in Domat im Zeichen gelebter Vernetzungen. Die Hermann-Ganz-Preis-Trägerin Eva Riedi etwa stellte ihren zweisprachigen Band mit Lyrik und Prosagedichten "will wissen was läuft / filosofia ella lavandaria" vor, in dem die junge Autorin ihre Befindlichkeiten aus einem einjährigen Studien-Aufenthalt in Berlin auf Deutsch mit Surselver Dorfwirklichkeiten im lokalen Idiom kontrastiert. In der Anonymität der Grossstadt habe sie nicht mehr die Kontrolle, die Zensur der Mitmenschen gespürt, die das dörfliche Kollektiv ausübe, resümiert Eva Riedi ihre Erfahrungen. Dieser Befreiung stehe aver die Last eines mitunter lähmenden Erschöpfungszustandes gegenüber, in der sich Grossstädter im Gegensatz zu den Dörflern permanent zu befinden scheinen.

Kleine Kulturen machen nur von sich reden, wenn sie rascher ihre Besonderheiten in künstlerische Produktivität umsetzen, glaubt Mevina Puorger, Lehrbeauftragte für rätoromanische Literatur an der Universität Zürich. Erst vor wenigen Wochen entstand die Idee der Domater Künstlerin Pascale Wiedermann, ein Schulzimmer im Schulgebäude ihrer Kindheit in Domat/Ems als Installation wieder neu erstehen zu lassen. Das Video strahlt Sequenzen des Rumantsch-Unterrichts für deutschsprachige Kinder aus, ein repräsentatives Zeugnis des ständigen Bemühens der Rätoromanen, das Eigene und das Fremde nebeneinander existieren zu lassen. Verbindungen, allerdings zwischen Tradition und Moderne, stellten auch die Photographin Regula Bearth und das Musiker-Duo Manfred Zazzi und Michel Decurtins her. Regula Bearth interpretierte mit Computeranimationen "La Canzun da Sontga Margriata", die älteste Alpensage aus der Rumantscha, und Zazzi/Decurtins remixten "Mintinedas da Murmarera", den archaischen Braugesang aus dem Surmeir. Unverkennbar das satirische Element auch hier. Nur im ironischen Abstand zu sich selbst kann eine kleine Kultur immer wieder neue Kräfte freisetzen, glaubt Benedetto Vigne, Mitglied des Organistaionskomitees der Literaturtage. Die Botschaft kam an. Und wer's nicht glaubte, konnte sich spätestens bei Joachim Rittmeyers Satireabend mit dem Thema "Nicht Loslassen" eines Besseren belehren lassen.

Mehr als zurzeit in den anderen drei Literaturen der Schweiz tun sich in der Rumantscha junge schreibende Frauen hervor. Claudia Cadruvi Pfeiffers in Rumantsch grischun geschriebener Roman "La recolta dals siemis" einer verhinderten Liebe, eine Chronik, die vor hundert jahren begann und sich fast über das ganze Jahrhundert zieht, ist zwar nicht ganz frei von irritierenden Anachronismen, spiegelt aber doch gekonnt die zeitlose Angst der Männer vor weiblichem Selbstbewusstsein wider. Bedrückend schön die Elemente jüdischer Mystik aufnehmende, in einem Valadèr-Dorfidiom geschriebene Lyrik von Chatrina Gaudenz, etwa das Gedicht "La not cloma", welches die kleinen Abschiede, die es im Leben zu nehmen gilt, thematisiert. Freilich, der hohe Anspruch und die Weltläufigkeit dieser Texte überrascht heute nicht mehr, denn um die Sprache zu retten, schreibt kaum einer mehr in der Rumantscha. So lautete letztlich auch der Tenor der von Iso Camartin geleiteten Podiumsdiskussion über die Motivation des Schreibens mit Ursicin G.G. Derungs, Giovanni Netzer und Rut Bernardi.

Mit Fabiola Carigiets "Cigns giu da tschiel" erhielt denn schliesslich auch ein Text den Premi Term Bel, den höchsten rätoromanischen Literaturpreis, der ein ganz aktuelles Thema der europäischen Literatur aufgreift, den Kindsmissbrauch. Angela Schmed wurde für ihren poetischen Abschiedstext "Cordials Salids" mit dem Förderpreis Marco Polo ausgezeichnet.

Michael Wirth

14.11.00

 

Page créée le 20.11.00
Dernière mise à jour le 20.06.02

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