Paolo Barblan
Secrétaire général de Forum Helveticum

Wie stehen die Chancen für die eidgenössische Verständigung?

Die Schweiz : Vier Sprachwelten und viel Gleichgültigkeit

Die Schweiz versteht sich, auf die Landessprachen bezogen, als viersprachiges Land. Die Viersprachigkeit der Schweiz bildet zusammen mit Föderalismus und direkter Demokratie eines der herausragenden Merkmale, mit dem wir uns gerne hervortun. Dass das Schweizer Stimmvolk in der Abstimmung von 1996 den Sprachenartikel (Art. 116 Verf.) angenommen oder anders ausgedrückt, die Viersprachigkeit der Schweiz offiziell anerkannt und damit einer Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache zugestimmt hat, beweist, dass eine Mehrheit der (stimmenden) Schweizer die Sprachenvielfalt als Bestandteil unserer Identität nicht missen will.

Die Schweiz ist viersprachig, wenn auch (zumindest innerhalb der Landesgrenzen) bekannt ist, dass die Schweizer selbst es nicht sind und dass die Zahl derer, die sich in einer zweiten Landessprache verständigen können, rückläufig ist. Allein dieser Indikator zeugt von Desinteresse andern Sprachgemeinschaften unseres Landes gegenüber, von wachsendem gegenseitigem Unverständnis, kurz, ist Ausdruck einer Situation, die schon mehrfach Gegenstand von Analysen und Handlungsempfehlungen war: In der Schweiz begnügen sich die verschiedenen Sprachgemeinschaften als fremde Nachbarn nebeneinander dahinzuleben und verschanzen sich hinter einer immer höheren Mauer der Gleichgültigkeit. Eine solche Behauptung ist zweifelsohne nicht differenziert genug und wird den oftmals beachtlichen Anstrengungen zur Förderung des eidgenössischen Dialogs, namentlich im Rahmen von Schüleraustauschprojekten, nicht gerecht. Doch mit diesen Massnahmen werden im Vergleich zu der Gesamtbevölkerung lediglich eine begrenzte Anzahl Personen erreicht.

Natürlich kann man sich für gewisse Zeit mit diesem Nebeneinanderleben in gegenseitiger Gleichgültigkeit abfinden. Ein solcher Zustand liesse zumindest auf eine erstaunliche „interkulturelle" Apathie" und einen bedauernswerten Mangel an Neugier hinsichtlich der kulturellen Vielfalt unseres Landes schliessen. Doch dürfte sich eine solche Situation vor allem mittelfristig als gefährlich erweisen, wie die Abstimmung vom 6. Dezember 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum hinreichend belegt: Das Schweizer Volk fällt aus allen Wolken, erkennt plötzlich seine unterschiedlichen Auffassungen, das gegenseitige Unverständnis und seine Kommunikationsunfähigkeit im Umgang mit Landsleuten anderer Sprachgemeinschaften.

Es liegt uns fern, uns dem Standpunkt all derer anzuschliessen, die mangels Eingebung oder unter Publizitätsdrang, alle nur erdenklichen Gräben zwischen den Sprachgemeinschaften vorschützen, so als würden in unmittelbarer Zukunft regelrechte Grabenkriege ausgefochten. Diese angeblichen Gräben zwischen Bevölkerungsgruppen, die sich misstrauisch begutachten und sich zusehends feindlicher gesinnt sind, sind oftmals inexistent oder aber von jener Presse überzeichnet, die dazu neigt, sich karikativ auf die Zentrifugalkräfte des Landes zu konzentrieren. Nicht die Auseinandersetzung ist gegenwärtig das Problem, sondern der Zustand gegenseitiger Unkenntnis und Gleichgültigkeit; die daraus entstehenden Miss- und Unverständnisse könnten mittelfristig in der Tat auf gewisse Formen der Konfrontation hinauslaufen.

Hanspeter Kriesi vertritt in seinem Werk, das dem Thema der Sprachgegensätze in der Schweiz (1995) gewidmet ist, die Auffassung, dass die wirtschaftliche und politische Interdependenz und Verflechtung der Schweiz auf internationaler Ebene es nicht länger zulässt, dass die Schweizer in gegenseitiger Teilnahmslosigkeit verharren und dass sie bald gezwungen werden, neue Konsensformen zu finden. Nebst diesem heilsamen wirtschaftspolitischen Druck von aussen wäre eine Förderung des „eidgenössischen Dialogs" – aus einer optimistischeren und somit idealistischeren Sichtweise – nicht zuletzt der kulturellen Bereicherung wegen wünschenswert.

Für eine dynamische Betrachtung unserer kulturellen Vielfalt

Wir plädieren also nicht für eine nationale Versöhnung über oftmals imaginäre Sprach- und Kulturgräben hinweg, sondern dafür, dass wir für unsere kulturelle Vielfalt ein Bewusstsein entwickeln und die Bereitschaft erlangen, andere Sprachgemeinschaften besser kennenzulernen. Damit widersetzen wir uns entschieden einem lediglich passiven Nebeneinanderleben der Sprachgemeinschaften. Natürlich bedingt dieses Bewusstsein und gegenseitige Verständnis nicht bloss eine Nivelierung der bestehenden Unterschiede, sondern auch deren Akzeptanz. Wir plädieren gleichermassen für eine effektive Nutzung dieser kulturellen Vielfalt, zumal sie für die Schweiz eine einmalige Bereicherung ist, der im alltäglichen Umfeld seltsamerweise kaum Beachtung zukommt. Anzufügen ist, dass das Erlernen einer zweiten Landessprache bloss eine der möglichen Auseinandersetzungsmöglichkeiten mit unserer kulturellen Vielfalt ist und dass ein besseres gegenseitiges Verständnis sehr wohl über non-verbale Fühlungnahmen und Aktivitäten erlangt werden kann.

Die Bereitschaft zu wichtigen und nachhaltigen Massnahmen zur Förderung der Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften (nachstehend „Verständigung" ) hat seit 1992 deutlich zugenommen: Parlamentarische Kommissionen haben einen gewichtigen Massnahmenkatalog erarbeitet; das Volk hat den Sprachenartikel einschliesslich des darin enthaltenen Absatzes zugunsten der interkulturellen Verständigung gutgeheissen; das Forum Helveticum lancierte in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Kultur das Projekt „Punts-Ponti-Ponts-Brücken" und eröffnete unter Einbezug aller Interessengruppen der Schweizer Bevölkerung den Dialog im Hinblick auf ein Verständigungsgesetz, das gegenwärtig in Vorbereitung ist. Kürzlich hat das Forum Helveticum im Rahmen desselben Programms ein nationales Gemeindepartnerschaftsprojekt lanciert; ferner ist auf das Jahr 2000 ein Internet-Auftritt geplant, der speziell der Verständigungsthematik gewidmet ist. Zum gleichen Thema sind diverse Projekte von staatsbürgerlichen Organisationen, Begegnungszentren und Diskussionsforen auf Internet, wie „Le Culturactif Suisse", in Bearbeitung.

Drei dieser in der Aufbau- oder Realisierungsphase steckenden Einrichtungen oder Projekte, die besonders erfolgversprechend anmuten, seien nachstehend erwähnt. Der gemeinsame Nenner dieser Projekte, ob auf Anregung privater Kreise oder vom Bundesgesetzgeber initiert, ist der Dialog und die Begegnung mit dem Andern.

Der Röstigraben : Allheilmittel der Medien?

1998 hat das Forum Helveticum im Rahmen des Projekts „Punts-Ponti-Ponts-Brücken" eine Aussprache zum Thema Verständigung mit Pressevertretungen aus sämtlichen Printmedienbereichen organisiert. Alle teilnehmenden Medienschaffenden waren sich einig, dass den Printmedien in der Verständigungsfrage eine Rolle zukommt, wobei sie sich eingestehen mussten, dass deren erbrachte Verständigungsförderung unzureichend ist. Dieselbe Dualität tritt auch in den Prognosen für die unmittelbare Zukunft zutage: Obwohl sich die Printmedien eine gewisse Verantwortung auf dem Gebiet der nationalen Kohäsion zuschreiben, müssen sie andrerseits auch den marktwirtschaftlichen Kriterien grosse Achtung schenken. Das heisst auch in Bezug auf das Thema Verständigung, tendenziell mehr Sensationsjournalismus und eine stärkere Gewichtung der Zentrifugalkräfte dieses Landes.

Gleichzeitig wurden konstruktive Vorschläge gemacht, wie sich die Printemedien auf dem Verständigungsgebiet vermehrt einsetzen könnten, sei es in eigener Regie, sei es mit Unterstützung des Bundes. Eine bestechende Idee ist beispielsweise die Herausgabe eines wöchentlich erscheinenden interkulturellen Informationsmagazins mit dem Ziel, der Leserschaft aktuelle, spezifische Themen aus den anderen Sprachregionen oder unterschiedliche Sichtweisen näherzubringen. Eine solche Zeitschrift, die in Form eines Pilotprojekts auf Internet bereits existiert, könnte als Diskussionsforum im Hinblick auf Abstimmungen Verwendung finden. Mit diesem Arbeitsinstrument liesse sich die langjährige,unermüdliche Arbeit der Korrespondenten in den verschiedenen Sprachregionen vervollständigen.

Die Rolle der staatsbürgerlichen Organisationen und Begegnungszentren

Verschiedene staatsbürgerliche Organisationen und Begegnungszentren leisten mit ihrer langjährigen Arbeit im Rahmen von Debatten oder praxisorientierten Aktivitäten einen wichtigen Beitrag zur Verständigungsförderung. Die Beispiele reichen von Jugend- und Lehreraustauschprojekten, interkulturellen Workshops, über Spracherwerb mit Tandem-Partnern bis zu interkulturellen Gemeindepartnerschaftsprojekten. Diese vielfältigen Aktivitäten werden zweifelsohne in mancherlei Hinsicht vom zukünftigen Sprachen- und Verständigungsgesetz profitieren können, das dem Bund ermöglicht, diese Art von Projekten zu unterstützen.

Selbst wenn Unterstützungsbeiträge des Bundes den Ausbau solcher Aktivitäten ermöglichen, bleiben diese dennoch einem punktuellen, begrenzten Zielpublikum vorbehalten. Die qualitative Eigenschaft dieser Aktivitäten, die von den Teilnehmenden als äusserst positiv und bereichernd empfunden werden, gilt es keineswegs negativ zu werten; es handelt sich ganz einfach um eine Charakteristik, die ihnen zugrunde liegt. Demzufolge müssten sie nicht anstelle von sondern parallel zu andern, breitgestreuten, gesamtschweizerischen Aktivitäten durchgeführt werden, die langfristig und systematisch anzulegen sind und einem festen politischen Willen entspringen. Doch gegenwärtig mangelt es in der Schweiz an solchen Aktivitäten. Diese könnten im Rahmen der obligatorischen Schulzeit – der günstigste Zeitraum für Jugendliche, den Andern kennenzulernen und geistige Mobilität zu erlangen –, angesetzt werden. Im übrigen ist die Schule die einzige Einrichtung, die zu einem gegebenen Zeitpunkt alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erfassen kann.

Wer hat Angst vom Austauschobligatorium?

Die von der Erziehungsdirektorenkonferenz unterstützten Fachstellen für Jugendaustausch hoffen seit langem sehnlichst auf eine Breitenwirkung der Schüler- Lehrlings- und Lehreraustauschprojekte auf allen möglichen Ebenen. In einem offiziell viersprachigen Land wie der Schweiz sollten demnach Austauschprogramme so breit angelegt sein, dass sie nicht länger eine Ausnahme, sondern die Regel bilden. Unter Sachverständigen spricht man von „Recht auf Austausch" für Jugendliche während der schulischen Ausbildung, wobei nicht unbedingt der Spracherwerb, sondern der Kontakt mit dem Andern im Vordergrund steht.

Angesichts der bestehenden Hürden scheint ein solches Anliegen nur über eine offizielle Einbeziehung von Austauschprojekten in den Schulplänen realisierbar. Damit wären wir beim politisch wenig korrekten Begriff „Austauschobligatorium" angelangt. Den kantonalen oder eidgenössischen Instanzen, denen die Erstellung der Schulpläne und die Prioritätensetzung für die Ausbildung Jugendlicher obliegt, böte sich hier eine gute Gelegenheit aufzuzeigen, dass die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften ernst genommen wird. Mit der Verankerung im neuen Berufsbildungsgesetz von mindestens ein- bis zweiwöchigen Austauschen, die sich in der Praxis mehrfach bewährt haben, könnte der Bund diesbezüglich sogar Pionierarbeit leisten.

Eine Gewähr für die faktische Wirksamkeit des geplanten Verständigungsgesetzes gibt es nur dann, wenn die Förderung der Verständigungsaktivitäten von staatsbürgerlichen Organisationen mit koordinierten, gesamtschweizerischen Aktionen einhergeht. Die Verwirklichung dieses Anliegens bedingt nicht nur eine echte politische Willensbekundung von Bund und Kantonen, sondern auch, nebst dem Einsatz von Personen und Einrichtungen, die der Verständigungsförderung verpflichtet sind, die Bereitschaft der Schweizer Bevölkerung aktiv mitzuwirken.

 

Das Forum Helveticum und das Projekt „Punts-Ponti-Ponts-Brücken"

Das Forum Helveticum wurde 1968 als unabhängiger, in konfessioneller und parteipolitischer Hinsicht neutraler Verein gegründet. Als Informations- und Diskussionsforum besteht seine Aufgabe darin, den Informationsaustausch und das Gespräch über grundsätzliche und aktuelle, nationale und internationale gesellschaftliche Themen herbeizuführen und zu fördern. Gegenwärtig zählt das Forum Helveticum 63 politisch, kulturell, wirtschaftlich, konfessionell oder gemeinnützig tätige Mitgliedorganisationen.

Im Bestreben, die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften in der Schweiz zu fördern, hat das Forum Helveticum 1996 in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Kultur das Projekt „Punts-Ponti-Ponts-Brücken" lanciert. Aufgrund einer zweitägigen Tagung (1996) und einem dabei erarbeiteten Massnahmenkatalog konnten mehrere konkrete Aktivitäten, wie das vor einigen Wochen initiierte interkulturelle Gemeindepartnerschaftsprojekt, realisiert werden. Im Hinblick auf das geplante Verständigungsgesetz fanden 1998 zahlreiche Aussprachen mit verschiedensten Interessengruppen der Bevölkerung statt. Auf ausdrücklichen Wunsch der Tagungsteilnehmenden von 1996 wurde erstmals ein Informationsbulletin über die im Bereich der Verständigung tätigen Organisationen und deren Aktivitäten publiziert.

Unter dem Titel „Punts-Info" ist eine die gleichen Ziele verfogende Internet-Homepage in Vorbereitung; diese soll per Februar 2000 aktiviert werden.

 

Paolo Barblan

Paolo Barblan wurde 1956 in Basel geboren, wo er heute lebt. Er ist rätoromanischer Herkunft, italienischer Muttersprache und hat in der Romandie die Schule besucht. Nach seinem Studium der Philosophie und Anglizistik in Neuenburg und Lausanne veröffentlichte er 1995 seine Dissertation über die Kunsttheorien der Kunstschaffenden im 19. und 20. Jahrhundert.

Seit 1982 befasst er sich im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit mit der Verständigungsthematik zwischen den Sprachgemeinschaften in der Schweiz oder mit der nationalen Identität.

Gleich zweimal als Projektverantwortlicher der ch Stiftung in Solothurn tätig, darunter für ein 1991 lanciertes nationales Lehrlingsaustauschprojekt; Programmleiter-Adjunkt des nationalen Forschungsprogramms 21 „Kulturelle Vielfalt und nationale Identität"; Projektleiter „Aktion Begegnung 91" im Rahmen der 700-Jahrfeier der Eidgenossenschaft; Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik; seit 1995 Generalsekretär des Forum Helveticum, Lenzburg, mit einem 1998 erteilten Sonderauftrag des Bundesamtes für Kultur im Rahmen der Aussprachen zum geplanten Verständigungsgesetz.

 

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