Manuela Camponovo
journaliste culturelle au Giornale del Popolo (Lugano)
Interview mit Manuela Camponovo (von Anne Pitteloud)
Sie sind verantwortlich für die wöchentliche Kulturbeilage des Giornale del Popolo , die jeweils am Samstag erscheint (vier Seiten, von denen eine der Literatur gewidmet ist).
Das Dossier zur Literaturkritik von Viceversa Literatur zeigt auf, dass die anderen Tessiner Tageszeitungen eine bis drei Kulturseiten pro Tag publizieren, die jedoch mehr auf die Unterhaltung ausgerichtet sind. Bücher werden darin oft über Gespräche mit Autoren behandelt, oder über Ankündigungen von Neuerscheinungen, und weniger in Form von Kritiken.
Auf Ihren Literaturseiten räumen Sie der Kritik im Gegenteil einen speziellen Platz ein, veröffentlichen Gedichte usw. Ihr besonderes Augenmerk gilt der Tessiner Literatur und der Schweizer Literatur ganz allgemein. Erzählen Sie uns doch bitte etwas dazu.
Da wir keine tägliche Kulturseite haben, sind wir auch weniger von den Pressekonferenzen und den unvorhergesehenen Aktualitäten abhängig – die im täglichen Nachrichtenteil oder auf der Seite mit dem Veranstaltungskalender Platz finden – und können Themen intensiver behandeln und vertiefen. Der Literatur widmen wir in der Tat eine Seite, im Allgemeinen die zweite, und je nach Anlässen oder Persönlichkeiten von besonderer Bedeutung bisweilen auch die Titelseite der Beilage.
Wir haben eine Reihe von Mitarbeitern, bei denen wir die Beiträge in Auftrag geben, oder dann unterbreiten sie uns Vorschläge, die wir von Mal zu Mal prüfen. Der Dichter und Kritiker Gilberto Isella hingegen geniesst in seiner monatlichen Rubrik «Il palchetto» [Die Glosse] uneingeschränkte Freiheit in der Wahl seiner Themen, die sich vor allem in der zeitgenössischen Dichtung, aber auch in der internationalen Belletristik und Essayistik bewegen. In der Ausgabe vom 29. März hat er eine Anthologie von israelischen Dichtern vorgestellt, die praktisch unbekannt sind im Vergleich zu Namen von Schriftstellern wie Yehoshua, Oz oder Grossman, die man ständig hört. Er schafft Nischen, und das widerspiegelt genau den Geist unserer Beilage. Im Italienischen gibt es die Redewendung «piove sul bagnato», was bedeutet, dass der Regen immer wieder dorthin fällt, wo es schon nass ist. Und genau das wollen wir nicht: weil es nutzlos ist, und weil dadurch vielleicht ein anderer, der ebenfalls verdienstvoll ist, «im Trockenen», in unserem Fall also unbekannt bleibt …
Auch der grösste Teil der Tessiner und Schweizer Literatur fällt unter die Rubrik Nische und Marginalität, wenn man sie mit dem internationalen Panorama vergleicht: Warum sollen wir also über den letzten Bestseller oder einen schon bekannten und berühmten Namen schreiben, um den sich ohnehin alle kümmern? Zum einen sind wir eine Regionalzeitung, die stark im Tessin verwurzelt ist. Zum anderen ist zu bedenken, dass der Leser, der sich für die Kulturseiten interessiert, ein Leser mit ‹Querverbindungen› ist, und da wir uns in einem italienischsprachigen Umfeld befinden, wird er La Stampa , die Tageszeitung von Turin, kaufen, weil sie die Beilage Tuttolibri enthält, sowie die Sonntagsausgabe der Wirtschaftszeitung Sole24 ore , die seriöseste und angesehenste italienische Kulturbeilage. Wir wollen nicht in Konkurrenz treten, und wir wollen auch nicht die gleichen Themen behandeln: Wir haben wenig Platz zur Verfügung, und es ist besser, wir füllen diesen Platz aus, indem wir das zur Geltung bringen, über das die anderen normalerweise nicht schreiben.
Sie publizieren auch Übersetzungen gewisser Artikel, die auf Culturactif erschienen sind (über Bücher von Autoren aus der Westschweiz oder Deutschschweiz, die nicht auf Italienisch übersetzt sind). Inwiefern interessiert Sie diese Zusammenarbeit?
Die Schweiz besitzt ein Privileg, einen Reichtum: die Mehrsprachigkeit. Diese Mehrsprachigkeit bedeutet jedoch auch ein Hindernis, wenn es um eine tiefere Kenntnis der verschiedenen Sprachregionen geht, oder um die Verbreitung der Kultur auf nationaler Ebene, besonders im literarischen Bereich. Der Königsweg, um diese Schranken zu überwinden, ist die Übersetzung. Tatsächlich werden in der italienischen Schweiz in den letzten Jahren vermehrt Werke aus den anderen Sprachregionen ins Italienische übersetzt. Doch man weiss hier noch sehr wenig über die Bücher, die in der französischen oder der deutschen Schweiz publiziert werden. Daher ist mir die Zusammenarbeit mit der Internetseite Culturactif so wichtig; sie erlaubt mir, wenigstens die Namen einiger Schriftsteller bekannt zu machen, zu wissen, was sie publizieren, welches ihre Themen sind und welcher Stil sie kennzeichnet. Jeden Monat «fische» ich daher aus der Internetseite das heraus, was mir für unsere Leser am Interessantesten erscheint, in Form von Besprechungen oder Interviews, und lasse es ins Italienische übersetzen: Ich habe zum Beispiel das Thema Immigration etwas näher verfolgt, das auch bei uns sehr präsent ist, und dazu den Kurden Yusuf Yesilöz ausgewählt, der auf Deutsch, oder den Rumänen Marius Daniel Popescu, der auf Französisch schreibt …
Wie sehen Sie Ihren Beruf? Gibt es eine Verantwortung des Kritikers, und welche?
Als Verantwortliche des Kulturteils muss ich mich auf organisatorischer Ebene ein bisschen um alles kümmern. Auf persönlicher Ebene habe ich mich im Lauf der Jahre auf Theater und Literatur «spezialisiert». Leider schreibe ich aus Zeitmangel nicht sehr oft über Bücher. Ich würde weniger von «Engagement» oder «Militanz» sprechen als vielmehr von «intellektueller Ehrlichkeit»; das ist die wahre Verantwortung, die ich meinen Lesern gegenüber spüre: das zu schreiben, von dem ich wirklich überzeugt bin, unabhängig von äusseren Zwängen …
Sie sind Mitglied der Schillerstiftung: Zusammen mit Walter Breitenmoser entscheiden Sie über den Schillerpreis für Werke in italienischer Sprache, was Ihnen einen Einblick in fast alles gewährt, was heute im Tessin erscheint. Was können Sie zur Entwicklung der Tessiner Dichtung sagen?
Wir sind ein hypertropher Kanton, wir haben ein aussergewöhnliches Angebot in allen Kulturbereichen, und dieses Angebot wächst ständig. Auch nach der gebührenden qualitativen Auslese bleibt noch sehr viel, wenn man die Grösse des Gebiets und die Einwohnerzahl bedenkt. Was die Dichtung betrifft, so gibt es auch bei uns viel mehr Dichter als Leser von Gedichten … Doch gerade in diesem Bereich wird langsam ein gewisser Generationenwechsel spürbar, mit dem Debüt von verschiedenen vielversprechenden Jungen. Zur Vertiefung möchte ich auf den Artikel in Viceversa 1 verweisen, in dem ein Kapitel der Poesie und der jungen Tessiner Poesie gewidmet ist … Doch die diesjährige Überraschung beim Schillerpreis kommt nicht aus dem Bereich der Poesie und ist auch kein junger Dichter: Aufgrund der Originalität und des subtilen Stils ihrer Erzählungen Regine di confine hat sich Erika Zippilli-Ceppi durchgesetzt, die mit sechzig Jahren als Erzählerin debütiert und die, nicht zufällig, Übersetzerin von Beruf ist.
Und wie sieht die Entwicklung in Bezug auf den Platz aus, den die Medien des Kantons der Literatur und der Literaturkritik widmen?
Es wird überall mit Wasser gekocht: Der Raum für literarische Seiten ist ziemlich geschrumpft, und folglich auch jener für Literaturkritik; offenbar funktioniert die Mundpropaganda besser als die Meinung des diensthabenden Experten… Heute landet auch die Beurteilung von Büchern auf Internet Blogs … Wir in der Zeitung versuchen, uns zu wehren, so gut wir können, indem wir der Literaturkritik einen Überlebensraum bieten: In der Ausgabe vom 22. März haben wir eine dokumentierte, analytische Rezension von Flavio Medici über das dichterische Debüt von Fabio Contestabile gebracht, die eine dreiviertel Seite füllte!
Haben sich die Bedingungen in Ihrem Beruf verändert?
Die technische Entwicklung hat sich beträchtlich auf die Inhalte und die Arbeitsweise ausgewirkt. Schnelligkeit und Kürze sind unsere Dämonen. Früher nahm man sich Zeit, um Leute zu treffen, einen Nachmittag mit einem Schriftsteller zu verbringen … Heute werden die Interviews am Telefon oder per E-Mail gemacht … Man kommt praktisch nicht mehr aus der Redaktion hinaus …
Sie arbeiten zu zweit mit einem weiteren Kulturjournalisten und werden durch Mitarbeiter von aussen unterstützt. Sie sind also ein kleines Team: was sind die Vor- und Nachteile?
Ein kleines Team sein heisst, alles machen zu müssen, von der Pressekonferenz über die Pressemeldungen bis hin zur Arbeit auf der Redaktion, doch gleichzeitig bedeutet es auch eine absolute Kontrolle über jeden Aspekt der Arbeit und die Möglichkeit, konsequente Entscheide zu treffen. Klein sein heisst auch, weniger von der Werbung erpresst zu werden, weniger ihrem Druck ausgesetzt zu sein …
Das Giornale del Popolo ist eine Zeitung der katholischen Kirche. Hat diese Färbung einen Einfluss auf Ihre Arbeit, oder haben Sie völlige Freiheit in der Auswahl und im Ton Ihrer Artikel?
Ich bin viel freier, als ich es vermutlich bei einer Zeitung wäre, die ideologisch, politisch oder wirtschaftlich geprägt ist. Eine Kulturbeilage in einer katholischen Zeitung will nicht heissen, dass die Seiten mit religiösen Themen oder Personen ausgefüllt werden. Es ist keine Frage des Inhalts, sondern der Sichtweise, der besonderen Sensibilität, mit der man die Welt betrachtet. So war zum Beispiel letztes Jahr am Karsamstag auf dem Titelblatt unserer Beilage kein heiliges Bild, sondern ein einfarbiges (rotes) Gemälde mit einem langen vertikalen Riss von Fontana, kommentiert von unserem Kunstkritiker Davide Dall'Ombra. Das war eine mutige Wahl, die bei den traditionalistischsten unserer Leser ziemliche Ratlosigkeit auslöste. Dieses Jahr hat uns der Chefredaktor die Idee «gestohlen» und Dall'Ombra beauftragt, das Gleiche für die erste Seite der Zeitung vom 22. März zu machen, um den Lesern frohe Ostern zu wünschen: Es wurde ein Bild ausgewählt, das weltlicher nicht hätte sein können, nämlich La repasseuse von Picasso; denn, wie es im Kommentar unseres Kritikers hiess, «Die gegenwärtige Schlacht ist diejenige, nicht weniger gefährliche, ja zu sagen zum einfachen Leben, der Hoffnung einen Sinn zu geben.»
Übersetzt von Gabriele Zehnder
Propos recueillis par Anne Pitteloud
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