Zwischen den Zeilen
Eine Zeitschrift für Gedichte und ihre Poetik
Heft 22, Basel / Weil am Rhein, Dezember 2003.

Zwischen den Zeilen, Heft 22

Felix Philipp Ingold: Ortstermine

„Dort! trägt ächzend einer meinen Namen.
Dort! auf der Lauer ein Gefühl; das duckt.
Dort! im flirrenden Grün des Weins schwillt Süsse.
Dort! ist kein Saus zu bruaen; wo's braust.
Dort! ist die Form der Muschel so dass sie - als ob sie nuschle - quillt.
Dort! flieht wer Dichtes; ganz anders das Trieder."

Aus: Zwischen den Zeilen. Heft 22, hg. von Urs Engeler. Basel / Weil am Rhein 2003. 305 S., Fr. 30.-

 

En bref et en français

[...] La tradition et sa transformation sont au centre du numéro 22 [de Zwischen den Zeilen]. Des sonnets de Shakespeare y font l'objet de traductions comparées ou de dérivations d'après des traductions russes, interrogeant la forme même du sonnet dans une perspective contemporaine ; des poèmes d'aujourd'hui « d'après John Donne » s'y ajoutent. L'ensemble est commenté par des réflexions sur les traductions proposées et sur le sens même de la confrontation avec la poésie ancienne. Un petit traité sur la "transsubstantiation et la métaphore" ouvre ce numéro... en vers - manière de renouer d'emblée avec la tradition antique associant la réflexion théorique à la forme poétique.

Texte tiré de Feuxcroisés N°6
A paraître en avril-mai 2004

 

Poesie und Übertragung

Das jüngste Heft der Poetik-Zeitschrift “Zwischen den Zeilen” mit Textenvon Franz Josef Czernin, Thomas Poiss, William Shakespeare, Felix Philipp Ingold, John Donne, Benedikt Ledebur.

Shakespeare

Sind Übersetzungen von Poesie an sich schon eine Unmöglichkeit, so fordert die historische Distanz zusätzlich heraus. Die Frage ist nicht nur, wie getreulich der Übersetzer formal, metaphorisch und thematisch dem Original zu folgen versucht, sondern zusätzlich, ob Gegenstände, Motive, Bilder und Metrum aus der Vergangenheit vergegenwärtigt, modernisiert werden sollen. Jeder Übersetzer wird hierfür eine eigene Antwort finden müssen.
Deshalb überraschte es nicht sonderlich, als vor fünf Jahren Franz Josef Czernins Neuübersetzung der Sonette Shakespeares auf Irritation und Kritik stiessen. In der “Frankfurter Allgemeine Zeitung” wendete Burkhard Müller dagegen ein, dass Czernin die nüchterne Sprache und die klaren Gedanken des Originals “zu einer künstlichen Altertümelei” zerknautsche und zudem Shakespeares fünfhebigen Vers ohne Zugewinn zum überlangen Sechsheber erweitere.
Anhand von drei Sonetten, den Nummern 38, 61 und 63, lässt sich diese Kritik im vorliegenden Heft nachprüfen. Dem englischen Original folgen Czernins Fassung und dazu eine deutsche Übertragung von Hanno Helbling. Die Trias erlaubt einen guten Vergleich, wie gleich die erste Zeile von Sonett 38 belegt:

Shakespeare: “How can my muse want subject to invent”
Helbling: “Wie könnte meine Kunst des Stoffs entraten,”
Czernin: “solang von dir ein hauch nur meine zunge löst,”

Der Vergleich deutet eine signifikante Differenz an, die durchaus auch Geschmackssache ist. In einem längern Essay versucht Thomas Poiss, die “verstörende Eigensprache” Czernins anhand einer Analyse des Originals zu erläutern und rechtfertigen. Störend daran ist freilich, dass ausgerechnet die beiden Sonette, die analysiert werden, nicht in integraler Form, sondern nur argumentativ zerstückelt nachzulesen sind.

Ingold da und dort

Einen andern Zugang unternimmt Felix Philipp Ingold mit dem Versuch, 13 Sonette Shakespeares über einen russischen Zwischenschritt ins Deutsche zu übertragen. Der englischen wie der russischen Version (letztere in Originalschrift abgedruckt) ist jeweils eine deutsche Interlinear-Übersetzung beigesellt, die Ingolds Version überprüfbar macht. Zum Beispiel Sonett 17, mit der russischen Übersetzung von Vladimir Nabokov (hier interlinear):

Shakespeare: “Who believe my verse in time to come
If it were filles with your most high deserts?”

Nabokov: “Mein Sonett würden die Zeiten wegen Betruges rügen
wenn es zeigen würde dein unirdisches Bild, -”

Ingold: “Die Zukunft würde dieser Verse Lügen strafen,
wenn ich dich übersetzen wollte in ein Bild.

Allein schon das Satzzeichen am Ende der zweiten Zeile markiert die unterschiedlichen Lesarten. Für Ingold diente die Versuchsanordnung dazu, zu zeigen, “in wie weit und in welcher Weise der Inhalt, also die Aussage, die Mitteilung eines poetischen Texts durch dessen Übersetzung in eine andere Sprache verändert, allenfalls verfälscht wird”.
Ein anderer Ton erklingt in seinen 13 luziden, bsiher unpublizierten Gedichten, die Ingold den Shakespeare-Übersetzungen folgen lässt.

“Vollkommenheit lehrt
immer nie. So
wie keine Sonne schont.”

Und noch knapper, konziser auf den “Punkt” gebracht sind die “Ortstermine”: “Dort! Passt Ovid in Gottes Ohr; wie Pastior.”

Ledeburs Donne

Weit weniger bekannt als Shakespeare ist heutzutage dessen Zeitgenosse John Donne (1572-1631). Der Münchner Dichter (Philosoph und Datentechniker) Benedikt Ledebur - von dem im Band auch 7 Oden und ein schöner Essay zur Odenform stehen - hat sich intensiv mit diesem anglikanischen Prediger und Hauptvertreter der “metaphysical poets” auseinander gesetzt und Gedichte von ihm übertragen.
“Übertragung und Poesie” hat er den Essay betitelt, worin er seine Beweggründe für diese Auseinandersetzung darlegt. Im Wort “Übertragung” steckt bereits das Quäntchen Demut und Vorsicht, das es braucht, wenn man sich Donnes “Songs and Sonetts” annähert. Mehrstimmige, zuweilen ironisch gesetzte philosophische Reflexionen kreuzen sich mit theologischen Bildern, die nicht nur der anglikanischen, sondern auch der protestantischen und katholischen Lehre entnommen sind. Hinzu kommt, dass Donne die zeitgemässen rhetorischen Strategien und Figuren variiert und unterläuft, “indem er Bilder wörtlich nimmt, syllogistisch aufgliedert oder zu Paradoxien verdichtet, Hyperbeln argumentativ ausweitet, bis zur Sinnlosigkeit übertreibt und das ganze Arsenal der Figuren nicht als rein ornamentales Gestaltvokabular begreift.” Dieser kurze Katalog des poetischen Eigensinns deutet die Herausforderung an, die Ledebur zu seinem Übertragungsversuch lockte.

“So, in forgetting, thou remembrest right
And unaware to mee shalt write.”
(in: A valediction: of my name in the Window)

“so zu vergessen wird erinnern bleiben,
du absichts los, in mich dich schreiben.”
(in: leb wohl: von meinem namen im fenster)

Ledebur kommentiert die von ihm ausgewählten Gedichte einzeln und legt dar, welche Einflüsse in ihnen verborgen sind und soweit möglich ins Deutsche hinüber getragen werden müssen. Diese Kommentare sind klärend und hilfreich, weil sie am konkreten Beispiel die Schwierigkeiten einer “Poesie der Übertragung” dingfest machen. Der Verdacht, den Ledebur selbst äussert, dass seine deutschen Fassungen als “Verstehenshilfen” missverstanden werden könnten, ist nichtig. Ledebur überträgt in klare, schöne Verse, die sich so weit nötig vom Original entfernen, auch im Wissen darum, dass dieses auf der Seite nebenan abgedruckt steht. Zuletzt “bleibt die königliche Rolle dem empirischen Leser, der beim Vergleichen von Original und Übersetzung versuchen kann, die Übersetzer anhand der Differenzen zu sich übersetzen zu lassen.”
Selten wird, notabene, so intensiv und konkret über das Ausdrucksvermögen von Sprache(n) diskutiert, wie wenn akribisch Originale und deren unterschiedliche Übersetzungen miteinander verglichen werden.

Czernin nochmals

Wie sehr Poetik sich aber auch verlaufen kann, demonstriert Czernins Traktat in lyrischer Form “Die Metapher. Die Transsubstantation”. Die zweite Hälfte des Titels bedeutet den quasi-religiösen Aspekt dieser eher hermetisch dunklen, denn klärenden Annäherung an die Metapher in der Poesie. Freilich ärgert daran weniger das Hermetische - Hermes der Gott der Übertragung wacht darüber - als die letztlich sehr lockere lyrische Form, die zwar mit genialischen Anflügen spielt, sich letztlich aber doch eher im Redundanten und Tautologischen verliert. Eine Feier des Geheimnisses um des Geheimnisses dieser Feier Willen.

Mit diesem 22. Heft wird eine Reihe fortgesetzt, die es seit elf Jahren gibt. 2003 hat “Zwischen den Zeilen” sich selbst mit einer besonderen 20. Ausgabe gefeiert: in Form einer CD-ROM, auf der alle Beiträge der ersten 19 Ausgaben im im PDF-Format gespeichert sind.
Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass hier mit drauf die wichtigsten Namen der zeitgenössischen deutschsprachigen Poesie versammelt sind, und dazu viele gewichtige Namen aus dem europäischen und amerikanischen Umland dazu. Wie der Band 22 bezeugt, war dies bloss ein festlicher Zwischenhalt. Die Auseiandersetzung geht weiter

Beat Mazenauer

Zwischen den Zeilen 22, Dezember 2003. Hg. von Urs Engeler. 305 S., Fr. 30.-.
Zwischen den Zeilen. Heft 20 in Form einer CD-ROM mit den Beiträgen der Hefte 1-19. 2003. Fr. 40.-.
Beide Urs Engeler Editor, Basel /Weil am Rhein.