Im Dorf herrscht eine klamme Stimmung. Es regnet in Strömen und drinnen in der Helvezia trinken die letzten Gäste, als ob es kein morgen mehr gäbe. Nach sechzig Jahren schliesst die Tante ihre Beiz. Es herrscht Endzeit über dem Stammtisch. Bald werden die Gespräche verstummen. Und mit ihm das Dorf, denn wie soll man leben an einem Ort, wo es keine Beiz gibt.
Nur einmal hatte die Tante in all den Jahren Ferien gemacht: zwei Wochen Süden, Sonne und Strand auf Gran Canaria. Doch dies werfen ihr Otto, Luis und Alexi noch an diesem letzten Tag vor. Trübe gestimmt leert der Luis Schoppen um Schoppen. Silvia, Otto und auch Gion Baretta halten mit beim Leeren der Bier- und Schnapsvorräte. Dazu wird gepafft und palavert.
Nur mit dem Alexi, dem Frisör, ist nicht gut auskommen. Er rührt sein grosses Bier nicht an, und stänkert über das Gerede der andern. Aber er bleibt sitzen. Ob ihm am Ende die Ustrinkata doch etwas ausmacht? Die Bergler sind harte Grinden. Es ist kaum zu erahnen, was in ihnen drin steckt.
Arno Camenisch versucht genau das in seinem Text herauszuarbeiten. Er verleiht dem Ritual des Austrinkens wörtliche Bedeutung. Wein, Bier und Kafi Schnaps helfen ein letztes Mal darüber hinweg, dass die guten alten Zeiten vorüber sind. Die Gäste erinnern sich an Ambrosi, der sich nie setzte, trotzdem das halbe Leben stehend in der Helvezia verbrachte, „nicht mal den Rucksack stellte er ab“.
Arno Camenisch hat genau hingehört und daraus einen doppelbödig melancholischen Sermon verfasst. Seine „Ustrinkata“ wird zur leicht benebelten Abdankungsfeier auf ein Dorf, in dem die letzten Anwesenden am Stock gehen und bloss noch verblühte Legenden im Kopf haben. Das ist nicht lustig, doch weil es von Camenisch lakonisch gut getroffen ist, erzeugt es dennoch ein leicht verlegenes Lachen.
Mag die Beiz auch zusperren, die Alten müssen bleiben, um den Friedhof aufzufüllen. Die Jungen dagegen sind längst fort. Einzig die Maria soll gegenwärtig im Dorf sein, mit ihrem anderen, dem „mit der Stallmütze“, der ihr den Hof macht. Schriftsteller sei er und schreibe Gedichte. Weiss der Kuckuck! Bloss Vorsicht, mahnt dazu der Otto, dass der einem nicht „die Sätze aus dem Magen“ klaut, um sie „in irgendeinem Buch“ zu veröffentlichen. Genau das aber tut er.
Unschwer erkennen wir in dieser Figur das inzwischen älter gewordene Erzähler-Ich aus dem zweiten Band der Surselva-Trilogie „Hinter dem Bahnhof“ (Engeler 2010) wieder. Er verbindet den lichten, zweisprachigen Band „Sez Ner“ mit dem trüben „Ustrinkata“.
„Hinter dem Bahnhof“ ruft eine kindliche Topographie in Erinnerung. Für einen rechten Lausbub ist kein Dorf zu klein, um nicht irgendeinen huara Seich anzustellen. Fünfundzwanzig Häuser und ihre Bewohner reichen dem Erzähler dafür vollauf. Für ihren Übermut zahlen er und sein Bruder freilich ihren Preis. Mal kriegen sie eins auf den Deckel, mal tätschen sie sich diesen ein.
Arno Camenisch ist in Tavanasa aufgewachsen, wo Sursilvan gesprochen wird. Gleich die Nachbargemeinde Obersaxen aber redet Deutsch, was auch die meisten Touristen tun. Diese sprachliche Nähe hat deshalb schon in jungen Jahren seinen Sinn für poetische Übergänge geschärft. Setzte er Deutsch und Romanisch in "Sez Ner" einander gegenüber, verschmelzen die beiden Idiome „hinter dem Bahnhof“ zu einem sonderbaren Gemisch.
In kurzen Absätzen erzählt Camenisch Lausbubengeschichten aus dem Dorf, das durchaus auch Tavanasa heissen könnte. Dessen Bewohner sind willige Opfer. Der Anselmo etwa, dem die beiden Saugofas die Schuhe mit Ketschüp füllen. Er und Marina gehen aber nicht deswegen in die Heimat zurück, sondern weil sie schwarz im Dorf lebten.
Auch Otto, der Velojäger, der Giacasep und der heimliche Dorfpoet Gion Bi erhalten hier schrullige Gestalt. Sie haben alle in „Ustrinkata“ nochmals einen letzten Auftritt.
Am nächsten stehen dem Jungen die Grosseltern, die Tatta und der Tat, vor denen er liebevollen Respekt hat. Sie bändigen die jugendliche Energie mit geduldiger Lebensweisheit. Tatas Tod am Schluss bildet so eine Zäsur.
Arno Camenisch erzählt frisch und witzig. Er porträtiert sein Dorf im Widerstreit zwischen dem gerne verklärten "Früher" und der vitalen Gegenwart. Seinen wahren Reiz holt dieser Text aber vor allem aus der Sprache. Der Junge kennt weder Orthographie noch Grammatik, er nimmt die Sprache übers Ohr auf, also über ihre lautmalerische Qualität. Worte wie "Pietigott" und "orvuar" sind so erst verstehbar, wenn sie laut gelesen werden.
Aus Romanisch, Dialekt und Hochsprache formt Camenisch ein eigenes Idiom heraus. Der Plural beispielsweise setzt die romanische Endung an den Schluss des deutschen Nomens. "Das macht Grüschs". Derart erzeugt dieser Text einen speziellen Sound und einen eigenen Rhythmus, der sich beim Lesen einprägt und am Ende auch geheimnisvolle Wendungen "Rubas und Schrubas" verständlich werden lässt.
Beat Mazenauer
Page créée le: 01.05.12
Dernière mise à jour le: 01.05.12
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