"Der Sog, Der Bann, Der Kreis
heissen lapidar die drei Teile der Simon-Mittler-Romantrilogie.
Ihnen hat Hans Boesch nun einen Epilog hinzugefügt:
Schweben. Der Titel ist Form und Inhalt zugleich.
Eine Reise ins Herz des Lichts
Linda lief talaus, über die Ebene gegen den Wald zu
und dann mit schnellen Schritten die stotzigen Hänge
hinan, über denen düster der Crasta Mora droht.
Sie tobt die innere Unruhe körperlich aus. Atemnot
hindert das Denken, ihre Aufmerksamkeit streift die Umgebung
bloss.
So wie sie über Alpweiden und Furggen hastet und ihren
Körper bis zur Ermattung antreibt, erhöht sich
auch die Pulsfrequenz der Sätze. Sie beschleunigen,
überschlagen sich, nehmen vom Wegrand bloss die Namen
von Pflanzen und Plätzen mit, bis Linda hoch droben
beim Fels sich erschöpft unter das kühle Quellwasser
beugt und sich damit Gesicht und Arme netzt. Da beruhigt
sich der Puls wieder und mit ihm die Sprache, die Wahrnehmung
öffnet sich. Am Himmel droben kreist ein schwarzer
Vogel, zu dem ein Mann spricht.
Hans Boeschs Roman Schweben ist ein rundum
wunderbares Buch: präzise komponiert, voller verblüffender
Landschaftsbeschreibungen und in einer luziden, schwebenden
Sprache geschrieben, die gleichsam losgelöst erscheint
von aller Pflicht, erzählen zu müssen. Die Sprache
ist ganz Stimmung. In kleinen Kreisen drehend, sich zusammenziehend
und weitend, sich aufregend und zur Ruhe kommend, spiegelt
sie rhythmisch das minimale Geschehen.
Die Handlung hat Boesch auf knappe Andeutungen reduziert.
Linda ist unruhig und traurig, weil Peider weg gefahren
ist, um in Amerika sein Glück zu suchen. Die Alpen
und Furggen, über die sie steigt und rennt, teilt sie
mit Simon. Doch während Linda rennt und hastet, schreitet
er, mittlerweile älter geworden, mit gemächlichem
Tritt über die Berge. Gemeinsam schauen sie dem schwarzen
Vogel zu, zusammen verdrücken sie sich, als sie von
einem gewittrigem Schneetreiben überrascht werden,
in eine Felsnische, die sich Simon eingerichtet hat. Auf
einen günstigen Moment wartend, um ins Tal herunter
steigen zu können, kommt Simon ins Erzählen. Er
redet sich mitten in die Kindheit hinein, ins rheintalische
Rietland, das wir aus Der Sog kennen.
Die alte Hebamme, Katrin, steht im winterlichen Rietland
und sucht den Heimweg. An der Brust trägt sie ein uneheliches
Balg. Sie sucht ein trockenes Fleckchen irgendwas, um daran
ein Streichholz anzuzünden zu können, für
ihre Laterne. In der Dunkelheit sich vorantastend findet
sie eines, in der Achselhöhle einer Jesus-am-Kreuz-Skulptur.
Noch zeigt der Allmächtige ein kleines Erbarmen. Diese
Binnenerzählung, im Roman das umfangreichste Kapitel,
ist ein kleines Meisterwerk für sich.
Während Simon in vergangene Zeiten zurück sinkt
und Linda über seinem Erzählen einschlummert,
entsteht in der engen Felsnische unvermittelt eine eigene
Welt, die den trügerischen Abbildern draussen trotzt.
Erst wie das Licht nach dem Sturm wieder hervorbricht, löst
sich dieses gegenteilige Höhlengleichnis auf, stellt
sich die übliche Ordnung wieder ein.
Gerade dieses bravouröse Zwischenspiel weckt indes
auch leisen Argwohn. Katrin flucht in finsterer Nacht gegen
die Hurensöhne von Fabrikanten, die unschuldigen Mädchen
Kinder anhängen und sie dann fallen lassen. Leistet
sich Hans Boesch hier nicht eine Kritik an der frühindustriellen
Ausbeutung, die um Jahrzehnte zurück liegt und daher
eher nostalgisch anmutet?
Die Frage darf gestellt werden, denn Schweben
ist ein versöhnliches Werk. Der Kampf zwischen Naturkräften
und technischer Bemächtigung, der seine frühen
Romane kennzeichnet, besonders Die Fliegenfalle
(1968), spielt keine Rolle mehr. Zumindest oberflächlich
besehen, denn die Welt ist auch hier nicht heil. Sein Wanderer
Simon aber achtet nicht auf die Autos und Motorräder,
die seinen Weg auf dem Albula-Pass kreuzen. Die steinerne
Bergwelt ist stärker, grösser, über solche
Beeinträchtigungen erhaben. Bezogen auf Boeschs kritische
Essays zur Stadtentwicklung könnte dies auch heissen,
dass der total(itär)e Mobilmachung vor allem die Stadt
als sinnlichen Lebensraum zerstört, jene kleinräumige
"Heimat", in der übermächtigen Natur
dagegen ist der Mensch allein.
Schweben blendet solche Fragen nicht aus, giesst
sie aber in eine neue Form. Es ist für den Autor auch
so etwas wie eine literarische Heimkehr - zu
dem hymnischen Roman Der junge Os, mit dem Boesch
1958 debütierte. Darin rettet sich der Tolpatsch Os
vor der Boshaftigkeit der Dörfler und tobt sich in
der Natur aus. Lichte Landschaftsbilder und eine emotional
durchflutete Sprache verraten hier schon den Poeten, der
in diesem Prosaautor seit je her schlummert.
Mit Schweben erweitert Hans Boesch die abgeschlossene
Mittler-Trilogie um einen befreiten Epilog. Linda, Simons
Stieftochter, haben wir kurz am Ende des vorletzten Romans
Der Kreis kennen gelernt. Sie hemmt ihre Eile
nur Simon zuliebe, dessen Tritt mit den Jahren langsamer
geworden ist. Hin und wieder setzt er sich hin, stellt seine
Staffelei auf, um mit seinem Blick die Berge zu umschmeicheln.
Denn das unbeirrte Weitergehen, das Loslassen, ein
geradezu leichtfertiges Loslassen von all dem, was hinter
ihm lag, das Fallenlassen erschien ihm wie Verrat.
Zuerst will er alles nochmals überblicken, als
ein in sich Ruhendes, Geborgenes sehen können.
Aus diesen Worten spricht der Autor selbst. Exakt dies will
sein Roman: das hinter ihm Liegende aufheben. Mit bewundernswertem
Geschick verknüpft Boesch die spärlichen Motive
zu einem vollendeten Ganzen, macht er einen Knoten
in die Nabelschnur. Damit hat er nicht sein letztes
Wort gesprochen, aber er hat seinem bedeutenden Werk eine
weitere grossartige Note hinzugefügt.
Hans Boesch: Schweben. Roman. Nagel
& Kimche, Zürich 2003. 140 Seiten, Fr. 29.60.
Beat Mazenauer
Page créée le: 05.03.03
Dernière mise à jour le 05.03.03
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