drehpunkt 114 drehpunkt 114 / Aglaja Veteranyi Mein Zimmer ging auf den
Hauptbahnhof hinaus. Aus. Eine Nacht im Leben von Ulrike Draesner
Inhaltsangabe Liebe Leserin, lieber Leser Aglaja Veteranyi weiterschreiben Es zerrt das Glück Besprechungen und
Hinweise
Liebe Leserin, lieber Leser Schriftstellerinnen, Schriftsteller leben nach ihrem Tod in ihren Werken weiter, heisst es, in den Gedanken, in der Phantasie ihrer Leser. Es gibt noch eine weitere Art, wie Geschriebenes weiterlebt: indem andere Schreibende es aufnehmen, verwandeln und auf ihre je eigene Weise weiterdenken. Überall dort, wo geschrieben wird, findet unbewusst oder mit Absicht eine Tradierung von Themen, Rhythmen, Schreibhaltungen statt. Für die vorliegende Nummer versuchten wir einen solchen Prozess des Weiterschreibens in Gang zu setzen. Aglaja Veteranyi, die bis kurz vor ihrem Tod an ihren Texten arbeitete, hat eine Reihe fertiger Geschichten hinterlassen. Drei von ihnen sind im "drehpunkt" zu lesen. Bei "Café Papa" und "Ana lebt", ihren allerletzten Texten, handelt es sich um Erstdrucke. Die drei Texte legten wir einer Anzahl Autorinnen und Autoren vor, in der Erwartung, dass sie vielleicht etwas in ihnen auszulösen vermöchten, das zu einem weiteren, ganz in der je eigenen Art geschriebenen Text führen würde. "Aglaja Veteranyi weiterschreiben" heisst das Projekt. Es erwies sich als nicht einfach. Zu sehr wirkte der Schock des Suizids der Autorin nach, zu viel an Erinnerungen rührten ihre Texte auf. Um so mehr wissen wir die Beiträge zu schätzen, die dennoch entstanden sind. Sie werden begleitet von einer persönlichen Hommage an die Autorin von Werner Morlang sowie einer Übersicht über deren Leben und Werk. Daneben finden Sie eine bunte Reihe neuer Schweizer Lyrik und Prosa sowie die Abenteuer einer jungen Frau in der nächtlichen Skizze von Ulrike Draesner. Die Bilder hat Jill Wäber für den "drehpunkt" gezeichnet. Ihr und allen an der Nummer Beteiligten gilt unser Dank. Rudolf Bussmann und Martin Zingg
Rede für Aglaja Nein, das soll kein Nachruf werden. lm Nachhinein weiss man's immer besser. Wer das Unfassbare begreifen möchte, ist um Erklärungen und Deutungsmuster nicht verlegen. Aglajas Ende scheint auf einen schlimmen Anfang zu verweisen, fehlende Geborgenheit, Unordnung und frühes Leid zuhauf, Kindheitstraumen, die das "Arbeitstier", wie sie sich gern nannte, durch eine Überforderung ihrer vitalen Kräfte in Schach hielt, bis die unverheilten Wunden tödlich aufbrachen. Man erinnert sich an dunkle Äusserungen Aglajas, wonach das Leben schlechthin eine Zumutung sei und es ihr schwer falle, sich selber zu akzeptieren, geschweige denn zu lieben. Man erinnert sich an etwas Unergründliches, jäh Schreckhaftes, das bisweilen in ihre Augen trat, und man macht sich Vorwürfe, solche Zeichen zu wenig beachtet zu haben. Erst recht sind ihr Roman und ihre Kurzprosa allenthalben von schartigen Stellen durchsetzt. Man hat diese wohl wahrgenommen, aber nicht das reale Unheil, das sie hervorbrachte. Sogar an der Geschichte von dem in der Polenta schmorenden Kind wurde bloss notiert, wie es dem Zirkusmädchen gelang, eine Horrorvision durch eine andere zu bannen, und dabei die doppelt erlebte Angst und die Gewalt, die sich die Gedankenspielerin antat, unterschätzt oder übersehen. Dennoch weigere ich mich, Aglajas Texte jetzt auf pathologische Elemente zu durchkämmen und ihr Leben als ausweglose Leidensgeschichte zu sehen. Das traurige Ende soll nicht als Verdikt über einen Lebensweg gelten, der keineswegs unglücklich verlief, ja, ich bin manchmal geneigt, geradezu von einer success story zu sprechen. Die jugendliche Aglaja hatte den Plan, aus der Analphabetin eine Schriftstellerin zu machen, energisch ins Werk gesetzt und im Zug einer achtzehnjährigen schriftstellerischen Tätigkeit das unvergleichliche Polenta-Kind geschaffen. Ich habe mich geärgert, dass in den meisten Nachrufen von einem »hoffnungsvollen Talent« die Rede war. Aglajas Roman ist kein literarisches Debüt, keine Talentprobe, sondem ein Buch der Ankunft, der Vollendung. Fast gleichzeitig, da sie im Aufbegehren gegen ihr Milieu die deutsche Sprache lernte, keimte in ihr der Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Sogar in den Ferien, im Gewühl italienischer Meeresstrände, machte sie beflissen ihre Schreibexerzitien, die sie dann unverzüglich ihrem Freund und Mentor Hannes Becher zur Begutachtung vorlegte. Alsbald entstand unter dem Titel "Die Panflöte" ein Roman, der ungedruckt blieb, und über die Jahre führte sie ein Prosastückligeschäft, das sich in alle Himmelsrichtungen reckte. Nicht ohne Stolz konnte sie sagen, dass sie längst vor dem Polenta- Kind zu den in Anthologien meistpublizierten Autoren des deutschen Sprachraums gehörte. Die existentielle Dringlichkeit und Energie, mit der sie sich die deutsche Sprache aneignete, war bis zuletzt in ihren literarischen Sätzen spürbar. Natürlich war ihr Schreiben nicht vor dem Scheitern gefeit, doch was immer sie zu Papier brachte, war von ihrer ungestümen Vitalität erfüllt. So lakonisch, schmucklos, elementar ihre Sätze klangen, sie waren ihr stets unverwechselbar eigen oder - um einen ihrer Lieblingsausdrücke zu verwenden - sie waren niemals "ausgeliehen": ein jeder Satz eine kraftvolle, geballte Einheit und dennoch in ein spannungsreiches Gefüge gebunden. Sie selber sprach vom "Herzschlag" ihrer Prosa. Ihre Texte enthalten nichts Müssiges, Ornamentales oder lose Enden, sondem gehen immerzu dramatisch aufs Ganze. Alles Laue, Flaue, Mittlere empfand sie als Gräuel, und ich erinnere mich, wie sie mir einmal einen Titelvorschlag verwies mit der mokanten Bemerkung, er sei wohl geschmackvoll, aber Pastell. Anderseits konnte sie sich vor Freude kam fassen, als ich ihr das Wort "Wolkenleise" von Else Lasker-Schüler zuspielte. Sie hielt es überhaupt mit suggestiven Wort- und Satzprägungen, sowohl selbstverfassten wie fremden, die sie auf Blanko-Postkarten kopierte und in ihrem Freundeskreis herumschickte. Fand ein litera- rischer Text keine Gnade vor ihr, nannte sie ihn »dünn« oder sagte: "Da ist die Luft raus", ein Urteil, vor dem sie ihre eigenen Produkte nicht verschonte. Kritik ertrug sie ohne weiteres, wie sie überhaupt unzeremoniös mit literarischen Dingen verfuhr .Kollegialen Neid, ein oft beanspruchtes Reiz- und Abführmittel in den unseligen Gefilden literarischer Konkurrenz, habe ich bei Aglaja nie entdecken können. lm Gegenteil: Sie trat immer wieder für vom Erfolg weniger begünstigte Autoren ein, zumal sie selber vor gar nicht so langer Zeit, als sie mit ihren Texten herumgetingelt war, nur marginal beachtet wurde. Inzwischen hatte sie es nicht mehr nötig, ihre Stellung abzusichern, da ihr seit dem Erscheinen des Polenta-Kindes Anerkennung überreich zuteil wurde. Den Erfolg nahm sie dankbar zur Kenntnis, ohne darin zu schwelgen. Die frühere Angst, in der Gosse zu landen, sei ihr nicht fremd geworden, sagte sie etwa. Sie machte keinerlei Wesens aus ihrer schriftstellerischen Arbeit, die sie, wann immer es ihre befrachtete Zeit erlaubte, in öffentlichen Lokalen verrichtete, um dann, soviel ich weiss, den Tagesertrag noch am selben Abend in den Computer zu tippen. Von diesem abgesegnet, besassen die Texte für sie eine hinlängliche Verbindlichkeit, um sie ihren Freunden zu unterbreiten oder vorzulesen. Bei Aglajas vielfältigen Tätigkeiten war es bisweilen nicht leicht, ein Treffen mit ihr zu vereinbaren, doch wenn es dazu kam, hat sie sich ihm ausgiebig gewidmet. Bei solchen Gelegenheiten war Aglaja - ich weiss kein anderes Wort, um ihre Ausstrahlung zu beschreiben - überaus "präsent". Sie schien immer auf der Höhe des Augenblicks zu leben. Sie mochte fröhlich oder traurig sein, aber niemals künstlich aufgekratzt oder grundlos niedergeschlagen. Sie liebte es, wenn sich das Leben in Geschichten einspinnen liess, und war nicht minder erpicht, solche zu hören wie sie selber zu erzählen. Ihrer bündigen literarischen Ausdrucksweise entsprach ihre mündliche Schlagfertigkeit, mit der sie eine behagliche Rede unterbrach, um sich dann schallend über die Verblüffung des Gesprächspartners zu amüsieren. Obwohl sie seit dem Erscheinen ihres Buches eine schier endlose Reise von Leseveranstaltungen absolvierte, nahm sie diese Pflichten ernst, freute sich über eine rege Anteilnahme oder wunderte sich bei einem Kränzchen wohlsituierter älterer Damen über deren angebliche "Schlagsahnenseelen". Gedankenabwesend, wortkarg oder in sich gekehrt habe ich sie selten erlebt, ausser während ihrer langen psychosomatischen Leidenszeit. Dennoch trug sich in ihrem Gesicht etwas zu, das ihr lebenssprühendes Naturell dämpfte. Ihr offenes Wesen, ihr staunender Kinderblick wurden durch eine auffällige Gewohnheit, die Lippen einzuziehen, gleichsam zurückgenommen. Sie war eben unbefangen und scheu, unerschrokken und furchtsam zugleich, als würde sie von einem Schlüsselerlebnis ihrer Kindheit heimgesucht: einer fatalen Mischung aus Allmachtsphantasien und Gefühlen der Minderwertigkeit. Von Zirkusromantik wollte Aglaja nichts wissen, aber das Zirkuskind hat sie öffentlich zur Schau getragen. Gegen das Alternmüssen, das Sterbenmüssen rebellierte sie heftig und berief sich dabei gelegentlich auf Canetti. Zwar hoffte sie, dass ihr das Altern auf schöne Weise gelingen möge; im Grunde genommen begehrte sie, zwei-, dreihundert Jahre aIt zu werden. Jedenfalls hätte sie niemals Kindlichkeit als Quelle dichterischer Imagination preisgegeben. Das allererste Lieblingszitat, das sie mir schenkte, stammt von Henry Miller und lautet: "Das Wichtigste ist, sich Überlegenheit anzueignen und im Alter den Mut zu entwickeln, das zu tun, was Kinder taten, als sie noch nichts wussten. "Über den Verlust kindlicher Verwegenheit, kindlicher Phantasie im Dasein der Erwachsenen hat sie sich gesprächsweise oft aufgehalten und war doch zutiefst berührt, als anlässlich einer Lesung aus dem in Entstehung begriffenen Buch ein Zuhörer monierte, man würde ihrer Alter-ego-Figur deren 37 Jahre nicht anmerken. Dieser Roman handelt, zumindest in einer ersten Fassung, zentral vom Sterben ihrer Tante, die während vieler Jahre die Stelle der Mutter bei Aglaja vertreten hatte. lm Bemühen, sich von der Polenta-Kind-Prosa abzusetzen, brachte sie sich selber als erwachsene Anna in der dritten Person ein, und es wollte ihr zunächst tatsächlich nicht so recht gelingen, dieser Figur ein überzeugendes Profil zu verleihen. Auch klagte sie darüber, dass ihr der Text zu düster geriet. Indessen fand sie zur ersten Person samt abgründiger Heiterkeit zurück, und solange es ihr noch vergönnt war, an dieser neuen Fassung zu arbeiten, war sie über das Ergebnis sehr zufrieden. War die Angst, die anarchische Kindlichkeit einzubüssen, der von ihr so genannte "Knackpunkt" ihrer seelischen Verletzung? ln guten Zeiten erzählte sie mir mit überschäumender Begeisterung die Geschichte, wie sie einmal von einem fremden Kind in ein Zimmer gelockt wurde, das Kind sich dann auf den Boden legte, seinen Bauch entblösste und sie wie ein zutraulicher Hund dazu animierte es zu streicheln. ln einem der letzten Texte von Aglaja mit dem Titel "Café Papa" kommt diese Begebenheit vor, doch das arglose Liebesspiel ist hier zur mörderischen "GÄNSE AUSSCHLACHEREI" mutiert. Aglaja ist tot. Es fällt mir schwer, von Aglaja in der Vergangenheitsform zu reden. Es tut manchmal weh, ihre Texte zu lesen. Aber ich freue mich auf die Zeit, da uns das Wunderbare, das Beglückende ihres Dagewesenseins und ihres Schreibens neu aufgehen wird. Werner Morlang
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