Georg Federseel bringt wenig Gewicht
auf die Waage. Meist schweigt er, und macht er sich doch
bemerkbar, so rettet er sich beredt ins Reich der Fantasie.
Federseel liegt das Herz auf der Zunge, aber nur, wenn er
nicht von sich selbst, ehrlich und wahrhaftig, sprechen
soll. Um nicht heillos ins Stottern zu geraten, erfindet
er lieber gleich wieder eine fantastische Geschichte.
Unschwer zu erraten, dass hinter
dem Fabulierer ein geborener Melancholiker steckt. Erzähler
neigen oft zur Melancholie, weil sie um ihre beschränkte
Erfahrung wissen. Die Wirklichkeit hinkt immer hinter all
den Möglichkeiten her, die Erzähler virtuell zum
Leben erwecken. Peter Bichsel oder Jörg Steiner geben
einen Eindruck davon.
Bei Federseel kommt erschwerend hinzu,
dass seine Fabuliererei aus einem Erzählzwang geboren
ist. Er lügt sich durchs Leben, indem er sich in Flunkergeschichten
redet, rettet. Als es aber doch ernst zu werden droht, muss
es mit ihm ein Ende nehmen.
Der 31-jährige Ralf Schlatter
hat sich in den letzten Jahren einen Namen als erfolgreicher
Slampoet gemacht. Mit dem schmalen Roman Federseel
debütiert er nun im ernsten Fach. Mit schönem
Erfolg, wie gleich anzumerken ist. Die tragikomische Geschichte
des Georg Federseel gefällt durch erzählerischen
Reichtum, formale Kompaktheit und sprachliche Klarheit.
Die mit leichter Ironie wattierte Traurigkeit erinnert zuweilen
etwas an Bichsel und Steiner, sie ist ebenfalls mit ein
wenig schrulliger Nostalgie versetzt, doch Federseel bleibt
sich selbst.
Als Silvesterkind geboren, wird ihm
am fünften Geburtstag erstmals erklärt, dass das
Feuerwerk draussen vor dem Fenster nicht ihm allein gilt.
Eine Enttäuschung fürs Leben. Georg erfuhr.
Und sann auf Rache. Dies wiederholt sich, als wenig
später seine Mutter stirbt. Dazu schweigt er. Den ersten,
Teil seiner Rache vollzieht er, indem er sich den linken
Zeigfinger abhackt. So ist es aus mit dem Zaubern, dafür
erhält Federseel einen Erzählkern geschenkt, aus
dem er ein Leben lang seine Geschichten schöpfen wird.
In tausendundeiner Variation berichtet er, wie es zu diesem
Malheur gekommen ist. Bald schon wird er sogar als flunkender
Mietgast zu Partys eingeladen. Ansonsten stottert
er - oder schweigt. Diesen gemächlichen Strom des Lebens
durchbricht Susanna, der er keine absonderliche Geschichte
anzudichten vermag, weil etwas anderes zwischen ihnen geschieht.
Federseel kann es nicht recht benennen, die Geschichten
wirken dann schal und ausweichend. Kannst du eigentlich
auch einmal normal mit mir reden, fordert Susanna.
Mit ihr wird es ernst, doch ein Unfall, dann ein zweiter
bereiten der Geschichte ein tragisches Ende.
Zwischen die einzelnen Kapitel hat
Schlatter jeweils ein kurzes, fortlaufend zu lesendes Intermezzo
gesetzt: Ein junger Mann mit Rucksack zwängt sich im
Zug in ein Sechserabteil und isst, wie die andern essen,
einen tropfenden Pfirsich. Am Ende erweist sich der junge
Mann als Georg - auf der Flucht. Die parallel geführten
beiden Erzählebenen kommen am Ende zusammen, sie belegen
die ebenso zurückhaltende wie effiziente Gestaltungskraft,
die Ralf Schlatter hier umsetzt.
Zwar kann eingewendet werden, dass
es insbesondere der Hauptfigur an psychologischer Tiefe
und damit an Ernst fehlt. Der Roman flunkert diesbezüglich
nichts vor, er mag eher liebreizend als brisant wirken.
Doch so ganz harmlos ist er nicht. Vieles muss und kann
auch erahnt werden, weil Federseel es flunkernd ausdrückt.
Im Grunde wünschte auch er sich, dass ich endlich
nicht mehr allen Leuten diese Geschichten erzählen
muss, doch dies mag ihm nicht gelingen. Indem er sich
ständig in die Fantasie redet, belügt er sich
auch ständig.
Dergestalt ist der Held für
seinen Autor eine ideale Figur, in der er den eigene Ideenreichtum
unterbringt: etwa in dem zauberhaften Märchen von der
Blumenwiese. Die Geschichten, die Federseel laufend erzählt,
sind jedoch nicht einfach Ausgeburten einer überbordenden
Einbildungskraft. Vielmehr wandeln sie vorangegangene Variationen
permanent ab, versetzen Motive und Figuren in neue Konstellationen
und vernetzen sie so zu einer grossflächigen Erzähltextur.
Auch hierin hat sich der Autor Zurückhaltung auferlegt.
Dennoch hilft dieses Erzählen seinem Helden nur über
den Moment, nicht über das Leben hinweg. Immerhin behält
er noch am Schluss seinen tragisch-komischen Charme.
Federseel. Roman. Kein & Aber, Zürich
2002.
Beat Mazenauer
Page créée le 26.11.02
Dernière mise à jour le 03.06.03
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