Die Martyrien des Dichters
Kuno Raeber
Mit einer fünfbändigen
Ausgabe ruft der Verlag Nagel & Kimche einen vergessenen
Autor neu in Erinnerung.
In einer szenischen Vorbemerkung
zum Drama "Bocksweg" notierte Kuno Raeber, dass
darin wie "in den alten Mysterienspielen Himmel und
Hölle mit der Welt, aktiv und passiv, zusammenhängen".
Der Zuschauer schaue von aussen in diesen geschlossenen
Raum und "sieht darin, mit Schrecken, sich selbst".
Zumindest für den Autor persönlich waren Drama
und Wirklichkeit aufs Engste miteinander verquickt. In "Bocksweg"
inszenierte er 1989 in fiebrigen Bildern das eigene Martyrium
zu einem Zeitpunkt, als das öffentliche Interesse längst
von ihm abgerückt war. Der Tod des San Lorenzo auf
dem Feuerrost war Sinnbild der persönlichen Verlassenheit
wie der dichterischen Identifikation mit der mystischen
Gestalt.
Der Romancier
Als Herzstück seines Werks können
zwei Romane gelten: "Alexius unter der Treppe oder
Geständnisse vor einer Katze" (1973) und "Das
Ei" (1981). In der Figur des Alexius begegnet
uns der Märtyrer als Protagonist. Raeber personifiziert
in ihm die These der ewigen Wiederholung. Alexius, verwahrlost
in New York hausend, deliriert von unzähligen mystischen
Vorleben, in denen er Nero war, ein Tiefseetaucher und anderes
mehr. Enger an die eigene Biographie angelehnt ist "Das
Ei". Der Ich-Erzähler sitzt in einem Café
in Rom nebst München, wo Raeber seit 1958 wohnte
die zweite Lebensstadt für den tief katholisch
geprägten Katholiken, der kein Christ mehr sein wollte.
In diesem Café gegenüber dem Lateran brütet
er über einem weissen Blatt Papier, auf dem er die
ruchbare Tat von Laszlo Toth zu vollenden hofft. Toth hatte
1972 wirklich die Pietà im Vatikan mit Hammerschlägen
beschädigt und war so dem Ich-Erzähler zuvor gekommen.
Deshalb versucht dieser die Rache am Bildnis der "Mutter
mit Sohn" auf dem Weg der Literatur "vollkommener
und perfekter" zu begehen.
Dieses ebenso faszinierende wie überspannte
Zeugnis einer schwärmerischen Passion erzählt
in phantastischen Abirrungen vom Wunsch, Maria, die Frau,
die Mutter und mit ihr das eigene Sohn-Sein auszulöschen.
Dafür erhebt sich das erzählende Ich in die Nachfolge
der christlichen und antiken Märtyrer. Nach Freiheit
drängend, zugleich gefangen im Reich der Mütter,
erträumt es sich eine brüderliche Gemeinschaft.
Die idealisierte homoerotische Bindung widersetzt sich der
familiären Ordnung, die Sinnbild ist für die Knechtung
des Individuums. Die Mutter, mithin die Frau, ist dafür
verantwortlich und damit für die männliche
Impotenz und die Schuldgefühle, die er bei seinen Fluchten
entwickelt. "Das Ei" ist ein einziger, greller
Schrei gegen diese mütterliche, marianische Instanz,
kraft deren auch die Rolle des Sohnes (bzw. Christi) eine
Knechtung und Überforderung darstellt. Unter Brüdern
allein fühlt sich das Ich ebenbürtig.
Der verzweifelte Aufruhr gegen die
Frau, gepaart mit männlich-mythischer Verzückung,
verleiht dieser Prosa etwas seltsam Unzeitgemässes.
Hierin, wie auch im Alexius-Roman, gelingt es Raeber, dieses
Unzeitgemässe in einer schwül-schwülstigen
Sprache aufzufangen, die den heiligen Ernst und den revoltierenden
Geist spürbar macht, der in ihnen steckt. Doch vermutlich
lag es gerade an der sinnlichen Unverblümtheit, dass
Raeber in Vergessenheit geriet. Die geistliche Verzückung
stiess weltliche Gemüter ab, religiöse dagegen
fühlten durch die drastische (Homo-)Erotik seiner Texte
bloss provoziert. Die Sprachmächtigkeit Raebers zeugt
letztlich allerdings doch für sein Werk, es äussert
sich nachgerade auch lyrisch.
Der Lyriker
"Das Gedicht ist ein Ort, wo
der Geist die Welt versammelt und ordnet." Mit derart
hoch gestimmter Auffassung wartete Raeber 1957 im Gedichtband
"Die verwandelten Schiffe" auf. Der Dichter zog
die Maske der Poesie über, um mit ihr die Brechung
zwischen Welt und Wort zu überwinden. Raebers Dichtung
jener Jahre stand in der ästhetizistischen Tradition
der Jahrhundertwende: George, Rilke und besonders Hoffmannsthal,
dessen Sprachkritik er mit der Maskenmetapher poetisch einlösen
wollte.
28 Jahre später erschien der
sechste, letzte Gedichtband "Abgewandt Zugewandt"
und präsentierte Verse von ganz anderer Art. Raeber
hatte die "Menge von Weltstoff", die seine frühen
Gedichte auszeichnete, inzwischen "abgeräumt".
Einfache Form und einprägsame Bilder zeichneten die
späte Lyrik aus. Am offenkundigsten aber wurde die
Differenz in der Sprache selbst. Mehr als ein Drittel der
Gedichte war in "alemannischem" Deutsch: der Sprache
seiner Luzerner Heimat geschrieben. Anstatt "Dem schattenlosen
Gipfel eilt er zu", wie 1950, hiess es nun: "Was
wotsch / ometschomple em Räge". Ein sprachlicher
Verfremdungseffekt, und doch derselbe Autor, dasselbe hohe
Sprachempfinden und musikalische Gespür. Auch als Lyriker
bestätigte Raeber seinen Eigensinn, der ihn zum faszinierenden,
überraschenden Autor machte.
Das Spätwerk
Der Märtyrer im lyrischen Gewand
begegnet uns im späten Drama "Bocksweg" wieder,
von dem eingangs schon die Rede war. Die zitierte Eingangspassage,
in der das Ineinander von Himmel und Hölle beschworen
ist, umschreibt präzise, wo Kuno Raeber nicht nur sein
Drama, sondern auch die letzten beiden Romane "Wirbel
im Abfluss" (früher "Sacco di Roma")
und "Bilder Bilder" topographisch situierte. Sie
spielen in einem Zwischenreich, in dem sich kollektives,
mystisches Gedächtnis und Zeitgeist mischen. Mit dem
Mittel einer hochartistischen Sprache, die nur so strotzt
von Assoziationen, Allusionen, Metamorphosen und historisch-mystischen
Versatzstücken, schlingt Raeber darin Geschichte und
Gegenwart, Mythos und Realität, übersinnliche
Ordnung und trivialen Alltag derart ineinander, dass die
Grenzen verschwimmen. Die Mysterien sind gegenwärtig,
die Gegenwart wird zum Mysterium.
Im Zentrum dieses späten Werks
stehen der Hl. Laurentius, der im Jahr 258 das Martyrium
erlitt, sowie das ewige Rom, um das die Phantasien Raebers
unablässig kreisen. Laurentius fungiert zugleich als
Hüter der Erinnerung an die Toten wie als Kristallisationsfigur
für den Drang, durch Leiden die flüchtige Existenz
zu überwinden. Das Opfer ist ein künstlerischer
Akt, denn in Laurentius steckt der "poeta laureatus".
Schliesslich ist Laurentius auch
einer der Stadtpatrone Roms. Rom seinerseits ist Città
aperta und Urbi aeterna in einem. Hier durchwirken sich
Gegenwart, Vergangenheit und der mythologische Hausschatz
des Abendlandes bis zur Unauflöslichkeit: es ist die
Zentrale einer mystischen Religiosität. "Wirbel
im Abfluss", Raebers konsequentestes Sprachexperiment,
verwandelt die Stadt rings um die Engelsburg in einen Wirbel
von Zeiten, Geschehnissen, Figuren, in einem synästhetischen
Bilder- und Wörterstrom ohne Punkte. Im "wahren
Bild", einer mythischen Ableitung des Grabtuchs Christi,
der "Bilder Bilder" nachspürt, fände
diese Sprachkaskade zum Stillstand. Wäre das vollkommene
Kunstwerk erreicht. "Am Ende", notierte Raeber
1991 in sein Tagebuch, "hinterlässt der Künstler
nur Fragmente, zahllose Fragmente eines einzigen grossen
Fragments". Im Glauben an diese Einzige zeichnet sich
der Mystiker und Sprachartist Kuno Raeber aus.
Das Dichten war für ihn ein
magischer Akt der Beschwörung, die er virtuos bis zur
Manieriertheit und manchmal zur Ermüdung betreibt.
In den labyrinthischen Verwirrspielen findet sich kein Platz
für feine Psychologisierungen, Raeber schilderte das
Walten elementarer Mächte: Tod, Gewalt, Leidenschaft,
Sexualität, Religiosität und Ritual. Mit welcher
Unerbittlichkeit, bezeugen gerade seine letzten Werke.
Der Essayist: Zeugnisse eines
Eigenwilligen
Diese Rigorosität widerspiegeln
ebenso die Essays und kleinen Schriften, von denen eine
Auswahl die Werkausgabe beschliessen. Darin finden sich
auch Erklärungen für Raebers Eigenwillen, der
stets quer zu den literarischen Trends stand.
Von seinen Büchern konnte Kuno
Raeber nicht leben, im Gegenteil hatte er oft hart um ihre
Veröffentlichung zu ringen. So waren es nach seinem
Abschied aus dem universitären Erwerbsleben 1958 vor
allem publizistische Arbeiten, die ihm den Lebensunterhalt
sicherten. Kuno Raeber hinterliess schachtelweise Essays,
Rezensionen oder Porträts. Aus diesem Fundus haben
die beiden Herausgeber der Werkausgabe eine Auswahl zusammengestellt,
die zumindest den Horizont der verstreuten Schriften gut
andeutet. Allein die Namen der Autoren, denen Raeber Beiträge
widmete, geben einen Eindruck seiner literarischen Präferenzen.
Es finden sich hier Dante, George, Rilke, Valéry,
Ernst Jünger, Pasolini oder Ingeborg Bachmann, die
Freundin, versammelt. Zwei Abteilungen lassen tiefer in
Raebers literarische und persönliche "Obsessionen"
blicken. Zum einen die persönlichen Aufsätze,
in denen er unter anderem seine komplizierte "Geschichte
mit der Kirche" darlegt. So sehr er fasziniert war
von der ästhetisch-mystischen Dimension des Katholizismus,
so sehr fühlte er sich abgestossen durch das moralisch-dogmatische
Christentum.
Diese Differenz grundiert die künstlerische
Haltung. Raeber ruft im Aufsatz "Plädoyer für
den Elfenbeinturm" Joyce, Rilke, Proust zu Zeugen an
für seine katholisch geerdete Kunstreligion, die sich
allein der Sprache verpflichtet fühlt. "Kunst
ist Proportion, ist Rhythmus, ist Harmonie. Kunst ist Schönheit."
Aus dieser ästhetischen Grundhaltung erklärt sich
auch die Abneigung des Dialekts als Kunstsprache. Raebers
intensive Auseinandersetzung mit der Schweiz kehrte immer
wieder zu diesem Punkt zurück. Die Schweiz isoliert
sich, weil sie den Dialekt der Hochsprache vorzieht. Diese
"Unzweckmässigkeit" erregte seinen Widerspruch,
zuweilen auch Zorn. Aller Qualitäten des Dialekts zum
Trotz sei es die Hochsprache, die die kulturelle Überlieferung
transportiere und die Schweiz an den deutschen Kulturraum
binde.
Kuno Raeber war ein eigenwilliger
Geist, der quer zu den Moden stand: ein wacher Traditionalist
mit einem feinen Sensorium für die Sprache. Wenn er
es wollte, wie in seinen alemannischen Gedichten, sogar
für den Dialekt.
Beat Mazenauer
Kuno Raeber. Werkausgabe in 5 Bänden,
hg. von Christiane Wyrwa und Matthias Klein. Verlag Nagel
& Kimche 2002-2004.
Band 1: Lyrik.
Band 2: Erzählende Prosa: Lügner sind ehrlich
/ Calabria / Die Düne / Der Brand / Missverständnisse.
Band 3: Romane und Dramen: Alexius unter der Treppe oder
Geständnisse vor einer Katze / Das Ei / Vor Anker.
Band 4: Romane und Dramen II: Bocksweg / Wirbel im Abfluss
/ Bilder Bilder.
Band 5: Essays und kleine Schriften.
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