Eine gefährliche Beziehung
Helen Meier beschreitet Neuland in
ihrer Erzählung "Schlafwandel"
"Vom Tod und von der Liebe mag sie es noch", hiess
es am Schluss von "Liebe Stimme": "Sonst
gibt es nichts zu erzählen." Als ob Helen Meier
diesem Verdikt die Treue halten wollte, hält sie sich
in ihrer neuen Erzählung exakt daran. Sie erzählt
von der Liebe und dem Schatten des Todes, der auf sie fällt.
Das Leben von Nora Korn, einer Frau um die 65, ist ohne
grosse Höhepunkte verlaufen. Zwei sie selbst überraschende
Akte tragen sie nun jedoch aus ihrer geordneten Lebensbahn.
Den Tod ihres langjährigen Partners beklagt sie mit
einem wüsten Theaterstück, in dem sie die Kirche
beschuldigt, sie um ihre Jugend und ihre Lust beraubt zu
haben. Wider alle Erwartung wird dieses Stück beim
Theater angenommen.
So kommt sie in Kontakt mit einer Dramturgin, der hübschen,
klugen Celestina. Rund um das geplante Stück verdichten
sich ihre Gespräche und erhalten zunehmends intimere
Züge. Die gegenseitige Sympathie verwandelt sich in
dem Moment zu etwas Neuem, als Nora mit einem "Mut
unbekannter Herkunft" die um Jahrzehnte jüngere
Frau auf den Mund küsst. Celestina erwidert den Kuss
und willigt ein. So beginnt unvermittelt eine ebenso schöne
wie gefährliche Liaison.
Die Vertrautheit zwischen ihnen nährt
sich aus der Differenz an Alter, Bildung und Erfahrung.
Im körperlichen Begehren, das eine zentrale Rolle spielt,
hebt sich die Differenz auf. Nora gewinnt neuen Lebensmut
und lebt erstmals aus, was sie früher, auch in der
Beziehung mit Davide, vernachlässigt hat.
Dabei verdrängt sie die heimtückisch lauernde
Angst vor dem Alter. Solange Einhelligkeit herrscht, lacht
ihr das Glück. Doch immer öfter lässt sie
sich von Nichtigkeiten kränken und beginnt sich einsam
zu fühlen. Sie braucht die Nähe der Freundin als
Lebenselixier. Der Zusammenbruch erfolgt, als sie gewahr
wird, dass Celestina - vorhersehbar - eine neue Beziehung
eingegangen ist.
Nora erhebt vehementen Anspruch auf eine Liebe, die die
Sexualität mit einschliesst. Ohne Körper gibt
es für sie keine Liebe, auch wenn sie spürt, wie
ihr Verlangen abnimmt. Den lebenslang geübten Verzicht
vor Augen, will sie nicht als Pensionärin aufs platonische
Altenteil gesetzt werden. Helen Meier verleiht dieser Forderung,
von einer "alten Frau" erhoben, eine streitbare
Kraft, die durchaus irritiert.
So glücklich Nora eine Weile ist - sein darf -, so
vermessen wirkt am Ende ihr rigoroser Anspruch gegenüber
Celestina. Ihr Widerstand ist ein kräftiges Lebenszeichen,
und zugleich eine Selbstdemütigung, weil in letzter
Konsequenz kein Widerstand die biologische Uhr aufzuhalten
vermag. Am eigenen Widerstand aber droht ihr Leben zu zerbrechen.
Zwischen den Zeilen erzählt
uns Helen Meier hier eine zweite Geschichte, die das traditionelle
Motiv vom reifen Herrn und der jungen Geliebten neu belichtet:
die Lolita-Geschichte. Meier tauscht die Geschlechterdissonanz
jedoch zu Gunsten der Generationenfrage ein und lässt
so die andere Dimension dieser Geschichte hervortreten:
die Angst vor dem Altsein, die Nora heimsucht und dazu verführt,
sich an der jungen Geliebten selbst zu verjüngen. In
dem Sinn wäre auch Nabokovs Held bloss ein alternder
Liebhaber, der sich krampfhaft an seine vergängliche
Jugend klammert.
Stilistisch präsentiert sich "Schlafwandel"
ruhiger, manchmal fast zu ruhig und zu glatt. Dies weckt
auch Kritik. Es fehlen die sprachlichen Haken und Ösen,
die Helen Meiers frühere Prosa so sehr auszeichnet.
Stellenweise kommen Noras Liebesprojektionen etwas gar idealisiert
und versöhnlich daher. Als Ausdruck ihres Strebens
und mehr noch Vorbeugens gegen Angst und Alter verfehlen
sie die Wirkung aber nicht. Die Brisanz hat sich vom Sprachlichen
ins Stoffliche verlagert. Auch wenn Helen Meier hier gradliniger
und vor allem gesitteter als in früheren Büchern
erzählt, hat sie sich ihre Ungebärdigkeit bewahrt.
Das macht sie noch immer zu einer wichtigen literarischen
Stimme.
Helen Meier: Schlafwandel. Erzählung.
Ammann Verlag Zürich 2006.
Beat Mazenauer
Page créée le: 13.07.06
Dernière mise à jour le: 13.07.06
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