"Genaues Hinsehen, das heisst
genaues Lesen ist nötig für den kritischen wie
für den einfühlenden Kritiker: eine fast detektivische
Neugier im Feststellen von kuriosen Details ... - aber auch
ein ahnendes Spiel mit Möglichkeiten, mit der Frage,
wer das Gegenüber, das Buch, der Autor, sein könnte.
Und unabdingbar, dass beim Lesen die eigenen Erinnerungen,
die eigenen Vorstellungen geweckt werden, denn anders, mit
dem blossen Verstand, ist den dichterischen Bildern nicht
nahezukommen."
Was unterscheidet die Literaturkritik
von der Literatur? Diese Frage bewegt die Geister noch immer.
Die kritische Sicht, liesse sich auf die Frage eilig antworten,
das heisst: der Bezug auf die Literatur und nicht auf das
Leben. Daran gibt es nichts zu rütteln. Doch eingedenk
dieser Differenz haben Literatur und ihre Kritik auch wesentliche
Gemeinsamkeiten, wendet Elsbeth Pulver aus profunder Erfahrung
ein. "Ein intensives Erlebnis gehört dazu, falls
etwas Rechts herauskommen soll", betont sie, vor allem
aber auch der Wunsch, "schreibend - und im Schreiben
auch gestaltend - auf eine Erfahrung zu reagieren, mit ihr
zu Rande zu kommen". Damit hat Elsbeth Pulver kurz
und knapp ihr eigenes Selbstverständnis umrissen. Literaturkritik
versteht sie nicht als Dienstleistung für den Buchmarkt,
sondern als ein persönliches Bedürfnis, das zur
Gestaltung drängt.
Dafür hat sie vor gut 16 Jahren
ein ganz eigenes Genre entworfen: das Tagebuch mit Büchern.
"Mäandern" war das erste dieser Art überschrieben
und widmete sich Texten von Paul Nizon, Norbert Gstrein
und Wolfdietrich Schnurre. Was sich darin manifestiert,
ist die mehrfach überschlafene,also reflektierte und
in einen grössern Kontext eingebettete Kritik von aktuellen
wie älteren Texten. Nizons "Im Bauch des Wals"
trifft auf Gstreins "Einer", und beide werden
konfrontiert mit Schnurres "Das Manöver"
aus den frühen Fünfziger Jahren - Schnurres Tod
gab den Anlass dazu. Die einzelnen Abschnitte sind jeweils
korrekt datiert: 26. Mai, 29. Mai, 31. Mai, 11. Juni. Entscheidend
ist, dass die Kritikerin mit dieser Datierung ihre Kritik
in einen betont persönlichen Zusammenhang stellt. Das
fragliche Tagebuch beginnt nämlich mit einer Beschreibung
des Handwerkers, der "seit einer Woche unsere Wohnung
renoviert" und sich wiederholt der Wortwendung "jetzt
stimmt die Sache für mich" bedient. Von hier aus
führt der Gednakenweg zu den Büchern und zurück
zur biographischen Randbemerkung: "Die persönliche
Form des Tagebuchs, die ich hier gewählt habe, erlaubt
mir, für einmal aufzuschreiben, was man in Rezensionen
üblicher- und richtigerweise verschweigt: Meine eigene
Kindheitserfahrung ist der von Gstrein und Nizon verwandt".
In diesem Sinn vermag Literaturkritik
durchaus auch persönliche Kundgabe oder Freundschaftsdienst
sein, ohne die kritische Sicht preiszugeben. Kritik ist
dann ein Segen, wenn sie begründet und nachvollziehbar
ist, gerade auch für die Autoren selbst.
Der Band "Tagebuch mit Büchern"
vereinigt eine Reihe vonTexten aus dieser Rubrik, die jeweils
in der "ZeitSchrift für Kultur, Politik und Kirche"
resp. unter dem alten und wieder aktuellen Namen "Reformatio"
erschienen sind. Ergänzt werden sie durch Essays aus
anderen Quellen. Schwerpunktmässig widmet sich Elsbeth
Pulver der Schweizer Literatur, die sie seit Jahrzehnten
aufmerksam verfolgt und begleitet. Aktualität wird
darin immer wieder hergestellt, doch die Tagebuch-Form will
sich dem Aktualitätswahn entziehen. Damit gelingt es
ihr, im Gemenge der oft marktschreierisch angebotenen Buchneuheiten
ihre Lust auf Lektüre zu bewahren, und gibt damit selbst
ein vorzügliches Beispiel für alle Leserinnen
und Leser.
Beat Mazenauer
Page créée le: 16.06.06
Dernière mise à jour le: 16.06.06
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