Posen des Künstlertums prägen
das Werk des gebürtigen Basler Autors Alain Claude
Sulzer. In seiner neuen Novelle Annas Maske
treten eine Sängerin und ein Kapellmeister in konflikthafte
Beziehung zueinander.
Die Schicksalsmacht der Liebe
Annas Maske" heisst das
neue Buch von Alain Claude Sulzer, eine Novelle aufgrund
einer historischen Begebenheit.
Könnten wir doch, und
wäre es nur für ein paar Stunden, Figuren eines
Romans sein, wir verlören alle Erdenschwere.
Im kusntvollen Roman Urmein von 1998 beschrieb
Alain Claude Sulzer eine Gruppe von Lebenskünstlern,
die sich die Kunst als zweite Natur herbeiwünschen.
In Annas Maske, der neuen Novelle von Alain
Claude Sulzer, erneuert sich dieser Wunsch, nur anders.
Verzweifelt wünscht sich Pauline, dass nicht wirklich
wäre, was sie eben erlebt hat. Dann wäre gar nichts
geschehen. Dann lebte Anna Sutter noch und würde mit
ihrer Stimme die Menschen verzaubern. Doch alles Wünschen
und Hoffen nützt nichts. Die ruchbare Tat ist geschehen.
Am 29. Juni 1910, 12.45 Uhr / Stuttgart, Schubartstrasse
Nr. 8, registrierte der Polizeiinspektor Heid nüchtern:
zwei Tote im Schlafzimmer der Sängerin Anna Sutter.
Die Wohnungsinhaberin sowie ihr ehemaliger Liebhaber, der
Kapellmeister Aloys Obrist - beide erschossen mit seiner
Waffe.
Frei geboren und frei verstorben
Ein ebenso grausiges wie sensationelles
Verbrechen, war Anna Sutter in Stuttgart doch geliebt für
ihre gesanglichen Leistungen wie für ihre Lebenslust.
Sie kam, wie es einmal heisst, zu ernster Arbeit wie
zu einem Feste. Sogar die zahlreichen Liebesaffären
wurden ihr nachgesehen. Einzig Obrist konnte über seine
Verstossung nicht hinwegkommen. So griff der eher schüchterne
Mann zur Pistole und tötete die, wie er in der Schweiz
gebürtige, Geliebte.
Der Fall rief damals in Stuttgart Unverständnis hervor.
Nicht nur bei Pauline, Annas Zofe, die dem Täter noch
die Wohnungstür geöffnet hatte, weshalb sie sich
schuldig fühlte. Doch sie würde darüber hinweg
kommen. Der Polizeiinspektor Heid bewies bei der Befragung
rührende Geduld mit ihr.
Die Carmen war Anna Sutters Glanzrolle. In ihen Posen brillierte
sie, und in ihnen starb sie. Bizets Oper begleitete ihr
frohgemutes wie tragisch endendes Leben: Frei wurde
sie geboren und frei wird sie sterben!
In der ihr gewidmeten Novelle erzählt
Alain Claude Sulzer abermals eine Geschichte aus dem Künstlermilieu.
Ausgeprägter als früher noch stellt er hier seine
Kunstfertigkeit ganz in den Dienst dieser wahren Begebenheit.
Sulzer gibt sich als zurückhaltender Chronist, der
verschiedene Quellen zurate zieht, um ein vollständiges
Bild der tragischen Vorfälle von 1910 zu vermitteln.
Er zitiert aus der Lokalpresse und aus Musiklexika, passagenweise
gibt er einen Brief Paulines an ihre Mutter wieder und referiert
die Befunde des Inspektors. Die Grenzen zwischen historischen
Quellen und Hinzufügungen aus der Phantasie des Autors
verwischen sich allerdings.
Recherche und Phantasie
Was vordergründig einer historischen
Reportage gleicht, erweist sich schnell als ausserordentlich
subtil gebaute Erzählung. Getreu der Definition der
Novellenform geht Sulzer sachlich in medias res, um den
unglückseligen Fall aus unterschiedlichen Blickwinkeln
immer präziser zu sezieren. Als Hintergrundfolie dient
ihm Prosper Mérimées berühmte Carmen-Novelle.
Lediglich die daraus extrahierten Zitate, die jedes seiner
Kapitel abrunden, wirken gesamthaft gesehen unnötig,
weil sie bloss verdoppeln und illustrieren, was allenthalben
spür- und erfahrbar ist. Nämlich das Walten der
Schicksalsmacht Liebe, die in Sulzers wunderbarer Erzählung
nach und nach ihre sehr menschlichen Züge offenbart.
Und zum Schluss in ihrer irdischen Form obsiegt. Im Brief
an die Mutter gesteht Pauline abschliessend, dass sie den
Polizeiinspektor Heid ehelichen werde. Eine einfache Person
wie Pauline versteht nichts von tragischen Liebesaffären.
Beat Mazenauer
Page créée le: 25.01.02
Dernière mise à jour le 25.01.02
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