Zwischen den Portalfiguren
des Lebens
Urs Widmers Das Buch des Vaters
Ein Roman ist ein Roman. Dies gilt
es im Falle von Urs Widmers jüngstem Buch neuerlich
in Erinnerung zu rufen. Das Buch des Vaters
bildet zusammen mit Der Geliebte der Mutter
ein sensibles Doppelporträt, das mit vielen biographischen
Schlüsselreizen lockt.
Zu Swann oder zu den Guermantes hin,
das war für den jungen Marcel die Frage. Zwei getrennte
Welten buhlten um seine Gunst. In der Recherche du
temps perdu hat Marcel Proust die Welt seiner Kindheit
aufgeteilt in zwei schmerzlich unvollständige Teilwelten.
Urs Widmers Doppelroman, dessen zweiter Teil nun vorliegt,
ist von anderer Statur. In diesem einen Punkt indes gleicht
er Prousts Kindheitserinnerung. Die Welt des Vaters und
die Welt der Mutter sind zwei sich beinahe ausschliessende,
komplementäre Teilwelten, in deren Mitte beklommen
der kleine Junge, ich, steht.
Radikaler hätte sich die familiäre Kluft nicht
ausdrücken lassen, als wie es Urs Widmer im Mutterbuch
getan hat. Wenige Monate später heiratete auch
sie, heisst es auf Seite 74. Vierzig Seiten später
ist er plötzlich tot. Mehr ist nicht zu
sagen.
Der Vater, ein Hausgespenst? Mitnichten, wie Das Buch
des Vaters nun zeigt. Es füllt jene Leerstelle
und korrigiert die verzerrte Mutter-Perspektive. Nach und
nach entdeckt es uns obendrein eine schillernde, faszinierende
Persönlichkeit: Walter Widmer (1903-1965), der vorzügliche
Übersetzer von Autoren wie Villon, Stendhal, Flaubert
oder Balzac. Doch, wie gesagt, ist Vorsicht ist geboten.
Ein Buch ist ein Leben für sich. Und der Vater darin
heisst Karl.
Mein Vater war ein Kommunist, beginnt es ohne
Umschweife, um gleich nachzuschieben, dass er es nicht immer
war und später gar nicht mehr. Mit schnellen Strichen
peilt Urs Widmer auf den ersten Seiten seines Vaterbuchs
zwei Höhepunkte an. Zum einen die Heirat mit der Mutter,
die auch hier durch spröde Schnörkellosigkeit
irritiert. Zum andern der Tod des Vaters, der am Ende aus
veränderter Perspektive ein zweites Mal erzählt
wird und so dem Vaterbuch einen Rahmen verleiht.
Das Buch des Vaters - das Buch
der Mutter
Der Struktur nach korrespondiert
es mit dem Mutterbuch. Die chronologische Erzählung
der Ereignisse wird mehrfach aufgebrochen durch Motive aus
der väterlichen Familienwelt, die sich wie eine anachronistisch
anmutende Gegenwelt in die Erzählgegenwart herein drängt.
Wir sehen Karl, wie er sich allein auf eine unwirklich wirkliche
Rite de Passage ins väterliche Dorf begibt, um da seine
Initiation zu empfangen. Urs Widmer hat hierfür eine
Sprache gefunden, die an Gottfried Keller Mass nimmt und
so einen Kontrast zur nüchternen Sachlichkeit des familiären
Alltags setzt. Nirgends stärker als in diesen Episoden
lässt sich der fiktionale Charakter des Vaterbuchs
ablesen.
Im Unterschied zum Mutterbuch erhält hier auch die
Frau des Vaters ihren Platz zugewiesen. Sie wollte
zufrieden sein, heisst es in jenem kurz angebunden;
hier nun wird spürbar, dass es anfangs sogar etwas
mehr war. Mutter will mit Vater glücklich sein. Deshalb
hält sie sich mit Bedacht zurück, wenn er mit
seinen Kommunistenfreunden wegbleibt oder mit vollen Händen
das Geld, ihr Geld, für Schallplatten und Bücher
ausgibt. Zuerst unmerklich, dann immer deutlicher driften
ihre beiden Welten indes auseinander. Vater liest und übersetzt,
Mutter gräbt mit verhaltenem Gram den Garten um. Dazwischen
das Ich. Und Schweigen. Die Gravitationskraft lässt
spürbar nach.
Sein Vater- und sein Mutterbuch hat Urs Widmer brillant
aufeinander abgestimmt und miteinander synchronisiert, ohne
dass beide je ihre Eigenständigkeit verlören.
Die Berührungspunkte wirken wie kleine Nadelstiche:
offene Schnittstellen. Die Mutter teilt ihre Schwangerschaft
zuerst ihrem ehemaligen Geliebten mit. Der Vater steht daneben
und ist verwundert, die Leser und Leserinnen mit ihm. Sind
die Gerüchte wahr, die herum geboten werden, dass sie
nach ihrer Verstossung einfach den erstbesten Mann genommen
habe?
Der Stachel sitzt tief auch in
diesem Buch.
Vater und Mutter sind einander zugetan,
keine Frage, doch ist es Liebe, gegenseitiges Verstehen?
Auch Vater träumt einem alten Schwarm nach. Seit seiner
Initiation schwebt ihm eine platonische Traumliebe vor,
die er damals nicht zum Tanz aufgefordert hat. In der Nacht
vor dem Tod begegnet er ihr unverhofft wieder.
Der Erzähler mitten drin, sich selbst, ich, zwischen
Kommas zaghaft in Erinnerung rufend. Gegenüber dem
Vater scheint ihm dies offenkundig leichter gefallen zu
sein. Ist der Mutter die Liebe zu ihrem Jungen misslungen,
so fühlt sich dieser wenigstens in die väterliche
Tradition aufgenommen. Auch Karl hat bei seiner Initiation
das grosse weisse Buch erhalten, das er mit seinem Leben
füllen wird bis zum Tod. Das Buch des Vaters
ist so etwas wie ein Realersatz dafür, dass die Mutter
jenes weisse Buch weggeworfen hat, bevor es der Sohn hat
lesen, weiter tragen können.
Die grössere Vertrautheit mit dem Vater macht sich
stilistisch bemerkbar. Widmer erzählt in diesem Roman
gelassener, runder. Lakonisch raffende Passagen wie im Mutterbuch
fehlen weitgehend, an ihre Stelle tritt die geradezu euphorisierende
Begeisterung des Vaters für seine Bücherwelt.
Der Autor scheint sie eher zu teilen als Mutters Gartenarbeit.
Beide Romane bezeugen ein liebevolles Gedenken. Zugleich
aber lassen sie erahnen, welche Mühe dem Autor die
literarische Verarbeitung bereitet haben dürfte. Mit
den beiden komplementären Büchern, die sich auf
subtile, kluge Weise ineinander verzahnen, hat sich Urs
Widmer ein bewegendes familiäres Diptychon geschaffen,
das förmlich nach einem dritten Teil ruft: der Junge,
ich, zwischen diesen beiden schwierigen Portalfiguren seines
Lebens.
Beat Mazenauer
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