Interview : Paul Nizon im Gespräch mit Daniel Rothenbühler über Abschied von EuropaDaniel Rothenbühler : Abschied von Europa handelt von einer Reise nach Ostasien und davon, dass Sie darüber erst sieben Jahre später schreiben konnten. Warum aber erscheint der Text erst 22 Jahre nach seiner Niederschrift als Buch? Warum nicht früher? Und warum gerade jetzt?
Paul Nizon : Ja, ich habe mich zwar nach der Rückkehr aus Ostasien an eine Verschriftlichung der "Reise" gemacht, kam aber nicht recht vom Fleck. Eine kleine Version hatte ich im ZEIT-Magazin abgeliefert, unbefriedigend, unbefriedigt. Erst nach dem Erscheinen vom Jahr der Liebe 1981 nahm ich den Text wieder vor und zwar unter Einbringung der Reisepartnerschaft mit dem Fotografen. Dann liess ich das Ding liegen. Ich hielt das Experiment für gescheitert. Den Text versenkte ich in einer Mappe mit kleiner Prosa aus jüngerer Zeit. Er kam zum Vorschein, als Reto Sorg unlängst in anderer Mission bei mir im Atelier war und zufällig in der Mappe stöberte schmökerte. Er fand den Abschied gut oder interessant, zumindest publikationswürdig. So schickte ich ihn an Suhrkamp und auch an Actes Sud (die mich um einen Beitrag für die kleine Reihe mit Fotos, hrsg. von Bertrand Py gebeten hatten), und siehe da: beide Verlage sprangen darauf an.
Nun habe ich beim Bearbeiten des Materials für den kommenden Journalband (1973-1979), er kommt im frühen Herbst dieses Jahres unter dem Titel Das Drehbuch der Liebe (le livret de l'amour) jedoch zu meinem eigenen Erstaunen festgestellt, dass von Abschied von Europa immer wieder die Rede ist, einerseits von dem Textvorhaben, viel mehr aber im Zusammenhang mit einer tiefsitzenden Europaverdrossenheit, einem Europaskeptizismus, so als wären die von mir so sehr geliebten Weltstädte wie Paris und London nurmehr Nostalgien und keine lebensfähigen Wirklichkeiten mehr; es geht um die Zukunftslosigkeit, ein Ueberlebtsein. Kurzum: die Reise hatte mir einen echten Schock versetzt, indem sie meine bis dahin nie in Frage gestellten Ueberzeugungen nicht nur relativierte, sondern entkräftete. Ich kam mir wie ausgeweidet vor. In diesem Sinne mag es nicht ganz zufällig gewesen sein, dass der Text gerade jetzt wieder aufgetaucht ist. Er liefert in der Tat ein autobiographishes Bindeglied, sagen wir zwischen Stolz und Jahr der Liebe, zwischen der tödlichen Resignation des ersteren und dem forcierten Lebensaufbruch des letzteren. Das geht aus den Journalen hervor. Anekdote: ich las die erste Rezension von Stolz im Flugzeug auf der Heimreise von Singapur nach Zürich (in der Weltwoche).
Wenn Sie ein Buch mit dem Titel Abschied von Europa veröffentlichen, kommt man nicht umhin, an Ihren Abschied von der Schweiz zu denken. Diesen haben sie längst vollzogen, während derjenige von Europa sich für Sie als unmöglich herausstellt. Woran liegt das? Liegt in Ihrer Bindung an Europa die unüberwindbare Grenze Ihres lebenslangen Versuchs, aus Bindungen auszubrechen?
Ich habe in meiner fernöstlichen Kopfscheuheit und Weltblindnis tatsächlich den Europäer in mir entdeckt, eine Europasehnsucht, eine kulturelle Verankerung, heimatliche Zugehörigkeit und in diesem Sinne wohl auch den alten Menschen in mir (akzeptiert). Sie haben recht: ein Grenzerlebnis.
Abschied von Europa ist nicht nur ein Buch übers Reisen, sondern vor allem auch eines über die Sprachlosigkeit eines Schriftstellers angesichts einer Welt, die für ihn ganz undurchschaubare Bezugssysteme voraussetzt. Wäre die Unmöglichkeit, einem Erlebnis in herkömmlichen Mustern der Sprache beizukommen, nicht gerade ein willkommener Anlass zum Schreiben? Lebt Ihr Schreiben nicht dauernd von solchen Anlässen? Warum die besondere Mühe in diesem Fall?
Ja, mein Schreiben lebt von der Voraussetzung des Fremdseins, hier der (sprach) schöpferische Anlass und Impetus. Und es sind ja in kleinem Masse auch im Abschied wohl einige Wortaufnahmen gelungen. Doch lag kein Liebesanreiz in diesen Zonen, keine Verlockung, bloss ein einschläferndes Gift und der Wunsch nach Entkommen. Ich wünschte mich in Sicherheit zu bringen. Erst in einer Langzeitwirkung verspürte ich die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung bzw. Verarbeitung. Ich denke heute, eine künstlerische, intellektuelle Herausforderung hätte sich eher in China oder einer asiatischen Sowjetprovinz oder in Indien ergeben.d.h in Gebieten mit einer spürbaren Aufbruchsenergie und eben weniger in Indonesien, Thailand, Malaysia (in diesen von J.Conrad, Somerset Maugham, Orwell für mich versiegelten ehemaligen Kolonien).
Der Text enthält eine doppelte Ironie. Der Abschied von Europa, den er ankündigt, erweist sich als unmöglich, aber nach dieser Erkenntnis wird zum Schluss daran festgehalten, dass wenigstens ein "Absprung aus Europa fällig" wäre. Wie ist das zu verstehen?
Der Wunsch nach einem neuerlichen Absprung aus Europa, wie er um Schluss des Textes zum Ausdruck kommt, visiert die USA an, den Westen, den grösseren Erlebnisraum in relativ vertrauten Verhältnissen. Es ist Welthunger, was sich meldet oder eine durch die Verpflanzung in den französischen Kulturraum freigesetzte Disponibilität.
Daniel Rothenbühler