In der Tonne trommelt der
Japaner
Ganz spezielle Blicke auf die Postkartenschweiz
bietet ein Projekt des Künstlers Niklaus Lenherr. Ausgewählte
Postkartenbilder werden von Klaus Merz und Zsuzsanna Gahse
poetisch beantwortet.
Bilder lügen gerne. Ihre Unwahrheit besteht aber nicht
darin, was sie zeigen, sondern in dem, was sie verheimlichen.
Bilder lügen, wo sie ausgeschnitten sind. Mit diesem
Faktum spielt Niklaus Lenherr in seinem Projekt "Blicken".
Aus seiner Sammlung hat er zehn Schweizer Postkarten ausgewählt,
um Ausschnitte daraus einem Dichter und einer Dichterin
vorzulegen. Sie sollten, wechselweise, das, was sie sehen,
poetisch weiter spinnen.
Entstanden ist daraus ein abgeschlossener Gedichtzyklus,
mit drei Mal zehn Texten. Lenherr hat sie in einem bezaubernden
Bildband gesammelt und herausgegeben. Darin sind die bedichteten
Bildausschnitte als Karten mitgegeben, sowie (gerasterte)
Ansichten der ganzen Postkartenbilder abgedruckt.
Postkarten sind, schreibt Barbara Basting im Vorwort, "Wunschbilder
und Projektionsflächen, die über die mindere Realität
hinwegtrösten". Viele von ihnen haben das Bild
der Schweiz nachhaltig geprägt. Doch was, wenn ihnen
die Bildlegende fehlt, oder ihre gewohnte Ganzheit zerschnitten
wird?
Mit Wortwitz und poetischem Feingefühl finden Klaus
Merz und Zsuzsanna Gahse teils überraschende Antworten
darauf. "In der Tonne sitzt der / Japaner, er trommelt
/ mit blossen Fäusten / den Kehricht herbei."
Wirft Merz seinen Blick in eine Container und sieht, was
wir nicht sehen.
Auf seinen Vierzeiler reagiert Zsuzsanna Gahse mit sechszeiligen
Strophen, die eher zum Erzählerischen neigen. Den trommelnden
Japaner beantwortet sie mit einer knappen Reflexion über
asiatische Instrumente, deren "dumpfe Töne aus
der Tonne in die grünen Bäume" fliegen. Merz
abermals entdeckt daraufhin noch unverfrorener den Tambour
gleich ums scharfe Eck.
Die Synthese aus Bild und Text offenbart auf poetische Weise
zweierlei. Indem Merz und Gahse so ganz unterschiedliche
Dinge entdecken, aus dem Bild herauslesen, treten sie in
einen freundschaftlichen Wettstreit miteinander: ein reizvolles
Unterfangen. Zugleich tun sie damit auch kund, wie frei
verfügbar Bilder ohne nähere Benennung sind. Wir
können darin entdecken, was wir wollen.
Indem die Lesenden um den grösseren Kontext des Bildes
wissen, erkennen sie, was die beiden nicht haben sehen können.
Etwa dass drei Holzschaufeln nicht den Schlaf der Sennen
begleiten, wie Merz munkelt, sondern für den Käser
bereit hängen, der (ausgespart) gleich nebenan arbeitet.
Bilder erzählen mehr als tausend Dinge. Sie sagen,
was ich hören will. Darin liegt ihr Mehrwert, den die
Poesie von Klaus Merz und Zsuzsanna Gahse listig aus ihnen
herauskitzelt.
Blicken. Ein Projekt von Niklaus
Lenherr. Texte von Klaus Merz und Zsuzsanna Gahse. Vorwort
von Barbara Basting.
Verlag Martin Wallimann, Alpnach 2004. Mit 10 Ansichtskarten,
96 Seiten.
Beat Mazenauer
Page créée le: 13.10.04
Dernière mise à jour le 13.10.04
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