Ein Schelmenstück
Sandra Hughes Romandebüt
"Lee Gustavo"
So wie der Meteorit im ersten Abschnitt
im Kopf von Lee Gustavo einschlägt, so hat auch der
gleichnamige Debütroman von Sandra Hughes eingeschlagen.
Das erste Buch der 1966 in Luzern geborenen und aufgewachsenen
und heute in Allschwil bei Basel lebenden Autorin Sandra
Hughes ist ein eigenwilliger Schelmenroman.
Ungebremst kommt der Meteorit vom
Himmel herabgesaust und trifft Lee. Lee taucht ab und noch
bevor das Heimteam von Linsbury gegen Talton mit 0:2 zurückliegt,
liegt Lee hingestreckt in einer Bierpfütze. Der Stein,
von unsichtbarer Hand geschleudert, hat Lees Bewusstsein
ausgeblasen.
Blackout.
Hirnriss.
Und ein langsames Aufwachen in der Klinik.
Unter der schwesterlichen Fürsorge von Anna dämmert
es Lee allmählich wieder, verzieht sich die gähnende
Gedankenleere und schälen sich daraus Erinnerungen
ans frühere Leben heraus. Nach und nach formieren sie
sich zur chaotischen, aber ungewöhnlichen Geschichte
eines Menschen, der traumwandlerisch den sozialen Rändern
entlang balanciert und von einer Turbulenz in die nächste
fällt. So wie der Vornamen Lee sowohl für Frauen
wie für Männer taugt, so durchkreuzt Lees Leben
die gängigen Rollenerwartungen. Lee arbeitet als geschickte
Haushaltshilfe und liebt Frauen. Aber was heisst das schon.
Lee ist ein Outdrop: aus dem Rahmen der bürgerlichen
Normen gefallen.
Ein böses Komplott bringt Lee ins Gefängnis, von
wo kein gerader Weg zurück ins anständige Leben
führt, wie Lee erfahren muss. Dafür tun sich Umwege
auf: Forschungsreisen in die Südsee mit einem schrulligen
Professor auf der Suche nach den Unrat-, sprich Kotkultur
fremder Ethnien. Später die Lehre bei einem Tattoo-Meister,
der noch mit der "uralten Methode der Mauti" arbeitet,
sowie die Übernahme von dessen Laden.
Als Lee eines Tages in seinem Wohnwagen am Rande einer Müllhalde
nach einem Buch über die Kunst des Tätowierens
sucht, erregt ein zerfledderter, bisher unbeachteter Umschlag
die Aufmerksamkeit mit dem Titel "Eke kori alafana".
Und - darin findet sich ein verschollen geglaubter Abschiedsbrief
des geliebten Vaters Milton, der auf traurige Weise Selbstmord
beging.
Stuhlgang
Die Erinnerung an Brasilien
Mit diesem Brief erhält Lees
Geschichte eine neue familiäre Dimension, die einige
ebenso beschämende wie mysteriöse Verwicklungen
offenbart. Seit der Kindheit, die sie in Brasilien verbrachten,
waren sich der Vater Milton und sein Zwillingsbruder Moses
in teuflischer Eintracht verbunden. Dabei zog der freundliche
Milton gegenüber der heimtückischen Boshaftigkeit
von Moses stets den kürzeren. Moses verfolgte und tyrannisierte
Milton auf Schritt und Tritt, so lange, bis dieser es nicht
länger aushielt und nach England floh.
Hier wähnte sich Milton in Ruhe und war es auch solange,
bis eines Tages abermals Moses auftauchte und diese Ruhe
zerstörte. Der traurige Selbstmord war eine Folge davon.
Lee hat die heimtückische Leutseligkeit des Onkels
selbst erfahren, sie brachte ihn ins Gefängnis. So
keimt der dringliche Wunsch, sich und den Vater für
erlittene Torturen zu rächen.
Mit Lee Gustavo betritt eine schillernde Figur die literarische
Bühne. Und mit ihr eine Autorin, deren Debüt ein
flunkerndes Schelmstück ist, in dem sich sehr zum Vergnügen
der Leser und Leserinnen die abenteuerliche Unerschrockenheit
der Titelfigur auch stilistisch widerspiegelt. Lee ist kein
Kind von Traurigkeit, trotz all der Plagen, die das Leben
parat hält. Unverdrossen, vital setzt sich Lee darüber
hinweg und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund.
Wer dem schweigsamen Vater bei der akkuraten Abfassung seines
traurigen Briefes die Feder führte, bleibt zwar ebenso
ein Geheimnis der Autorin wie die Tricks, die sie herbeizaubert,
damit Lees Rache gelingt. Darin manifestiert sich lediglich
der Triumph der glänzenden Fabulierkunst über
die schnöde Wahrscheinlichkeit. Was soll's. Viel wichtiger
ist, mit welcher Frische in diesem Buch geflunkert und übertrieben
wird.
Sandra Hughes hat einen eigenen leichtfüssigen Erzählton
gefunden, der ein widerspenstiges Lebensgefühl mit
Witz aus Lees eigener Perspektive beschreibt und die chaotischen
Begebenheiten zum Schluss in eine wilde Ordnung fügt,
die keine losen Enden lässt. Der Meteor erschlägt
sie alle, wenn es denn überhaupt ein Meteor gewesen
ist.
Beat Mazenauer
Sandra Hughes: Lee Gustavo. Roman.
Limmat Verlag, Zürich 2006. 316 Seiten.
Page créée le: 17.11.06
Dernière mise à jour le: 17.11.06
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