Der in St. Gallen und New York lebende
Christoph Keller strotzt vor Tatkraft. Im September 2003
ist in Bregenz sein Stück Ballerina zur
Uraufführung gelangt; wenig später sind zwei neue
Bücher von ihm erschienen, die den hohen Rang von Kellers
Literatur bezeugen. Das Jahr 2003 scheint ein gutes Keller-Jahr
zu sein.
Nachrichten aus der Muskel-Diaspora
Nicht die Sicherheit ist entscheidend,
sondern das Gefühl von Sicherheit. Nicht das Gleichgewicht
macht den Tänzer, sondern die Vorstellung von Gleichgewicht.
Vor fünf Jahren, präzis am 17. November 1998,
hat Christoph Keller diese Vorstellung verloren. Seither
balanciert er als Seiltänzer, ein Krückstock dient
ihm als Balancierstange, durch den öffentlichen Raum.
An besagtem Tag, rekonstruiert er,
habe er zum ersten Mal zu diesem Stock gegriffen und ihn
seither nicht mehr losgelassen. Jener Tag markiert freilich
nur eine Etappe auf einem Weg, der zwei Jahrzehnte früher
begann. 1978 wurden Keller zwei Diagnosen gestellt: betreffend
meine SMA und meinen Vater.
SMA: Spinale Muskelatrophie bezeichnet eine erbliche neuromuskuläre
Krankheit, auch bekannt unter dem Namen MS. In Schüben
geht nach und nach die Kontrolle über die eigenen Muskeln
verloren.
Der Bruch in der Familie
1978 ging auch der zu seinen besten
Zeiten florierende Gewerbebetrieb seines Vaters in Konkurs.
Dieser Einschnitt markierte den Anfang einer Verstörung.
Konkursbeamte raubten dem Vater nicht nur das
Unternehmen, sondern auch die geliebte Kunst- und Antiquitätensammlung.
An Vaters ohnmächtiger Wut sollte am Ende die Familie
zerbrechen.
In seinem Lebens- und Muskelbuch Der beste Tänzer
erzählt Christoph Keller diese ihn prägende Parallelaktion.
Er wird vom Vater als Krüppel verhöhnt und möchte
diesen doch als Vater anerkennen. Und er ist von einer Krankheit
gezeichnet, die er in der Zwischenzeit zwar akzeptiert hat,
die ihn aber dennoch immer wieder demütigt und wütend
stimmt.
Für dieses Buch gilt, was vergleichbare
Erfahrungsberichte auszeichnet. Aus ihnen spricht eine beeindruckende
Kraft und Ausdauer. Es muss doch weitergehen. Es geht
auch immer irgendwie weiter...
Momente der Bitterkeit und der Kraftlosigkeit wechseln sich
darin ab mit befreienden Glücksmomenten, wenn er an
seine Frau Jan Heller Levi denkt. Und es gibt grossartige,
radikale Beschreibungen der beschwerlichen, ermüdenden
Prozeduren in der Muskeldiaspora.
Vor allem aber bietet Der beste Tänzer
Prosakunst vom Feinsten: grosse Literatur. Mit tänzerischer,
stilistischer Souveränität behauptet sich Keller
zwischen den beiden Mahlströmen seines Lebens.
Ein erzählerisches Kleinod etwas
ist die Schilderung eingangs, wie der alt gewordene Vater
frühmorgens nach Hause tappt, in Gedanken ganz ein
Unbestechlicher wie Sheriff Will Kane aus High Noon,
stets auf der Hut vor seinen bösen Widersachern.
Western-Filme, die er sich einst mit dem Sohn im Fernsehen
anschaute, sorgen in seinem Kopf für Ordnung. Dieses
rechtschaffene Misstrauen beeindruckt sogar ihn, den Sohn,
der auch dessen boshafte Kehrseite kennt. Vaters Wohnquartier
in St. Gallen heisst bei ihm Hadleyville.
Erzählvariationen
Für sich selbst setzt er jedoch
andere Kinopräferenzen: Buñuels Belle
de Jour und Tristana, in denen je eine
Hauptfigur im Rollstuhl endet. Damit verbindet ihn auch
seine erste Ehe, der er ein eigenes Kapitel leiht: mit sich
in der Rolle von K. als Gatte. Der Autor hält sich
diese Erinnerung in objektivierender Distanz.
Diese Variationen in der Erzählform sind bewusstes
Kalkül, getreu einem Philip Roth-Zitat: Ich schreibe
Fiktion, und sie sagen mir, es sei Autobiographie; ich schreibe
Autobiographie und sie sagen mir, es sei Fiktion.
Genau das ist es.
In einem abschliessenden Text schildert
Keller die phantastische Begegnung des Autors Keller mit
seinem Biographen, der für Der beste Tänzer
verantwortlich zeichnet. Wer wer ist, bleibt verschwommen,
sicher scheint nur die Überzeugung des Ghostwriters,
dass dieses Buch Kellers bestes Buch werden
wird.
So ist es gekommen, nicht zuletzt, weil sich Christoph Keller
der schwebenden Grenzen zwischen Fiktion und Autobiographie
sehr klar bewusst ist und sie virtuos umzusetzen, auch zu
brechen vermag. Der beste Tänzer berichtet
schonungslos offen und reflektiert zugleich mit selbstironischer
Distanz. Eine Krankheit schreitet voran, sagt man,
was im Zusammenhang mit der meinen nicht einer gewissen
Ironie entbehrt.
Wer dieses Buch gelesen hat, dem
wird die Erzählung Einige vertraute Dinge
vertraut vorkommen. Christoph Keller hat sie, wie die erwähnte
Begegnung mit sich, auf Englisch verfasst und selbst ins
Deutsche übersetzt.
Sie bezieht sich unausgesprochen auf Seite 314 des Tänzer-Buches,
wo Keller die Schwierigkeit erwähnt, in New York eine
Wohnung zu finden. In der zweisprachigen Erzählung
staffiert er diese Mangelsituation sie zu einer schrillen,
letztlich tödlichen Phantasmagorie aus.
Das Ich wird stummer, hilfloser Zeuge
eines Mordes an einer betagten Frau, die seine Mutter sei.
Wie er aus seiner Lähmung erwacht, forscht er den beiden
Mördern nach, gerät dabei in düstere Kneipen
und schliesslich in eine schicke Kunstausstellung, wo der
Mord fotografisch an den Wänden dokumentiert ist.
Keller demonstriert Keller hierin sein Talent fürs
Groteske, das sich in sarkastischen, mitunter kafkaesk anmutenden
Phantasien austobt. Doch immer wieder blitzen leitmotivisch
die Elemente und Konstellationen hervor, die im Muskelbuch
die tragende Rolle spielen.
Die filigranen Strukturen von Oliver Krähenbühls
Zeichnungen stärken diese Verwandtschaft. Sie erinnern
an neuronale Strukturen. Schwarze Linien auf weissem Grund,
die immer wieder durchwirkt werden von weissen Linien. Diese
sind vor dem schwarzen Geflecht nur andeutungsweise sichtbar:
Stränge ohne Kraft, neuromuskulär verstummt.
Beat Mazenauer
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