Quarto 21/22
Quarto 21/22: Studer, Bärlach, Ripley,
Gunten & Co. SLA, Bern 2006. 192 Seiten.
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Quarto 21/22/
Die Kriminalliteratur
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Die Kriminalliteratur ist nichtnur
international ein trendiges genre. Auch innerhalb
der Schweizer Literatur sind Krimis seit langem sehr
gut vertreten. Autoren wie der noch immer vernachlässigte
Carl Albert Loosli, wie Friedrich Glauser, Friedrich
Dürrenmatt, Hansjörg Schneider, Werner Schmidli,
Peter Zeindler, Sam Jaun und neuerdings Petra Ivanov
und Susy Schmid stehen für eine Tradition, in
der sich dramatische Spannung mit sozialem Interesse
vermischt. Der Krimi ist längst keine mindere
Form mehr, sondern eine höchst seriöse literarische
Form. Dazuhaben Glauser oder Dürrenmatt ganz
Wesentliches beigetragen. Ein Doppelheft aus der Reihe
"Quarto" des Schweizerischen Literaturarchivs
widmet sich deshalb mit gutem Recht den Kommissaren
Studer, Bärlach, Ripley, Gunten & Co. Mit
Schwerpunkt auf die genannten Glauser und Dürrenmatt,
deren Nachlässe im SLA lagern, gibt uns der Band
einen vertieften Einblick in die Mechanik von guter
Kriminalliteratur.
Quarto 21/22: Studer, Bärlach,
Ripley, Gunten & Co. SLA, Bern 2006. 192 Seiten.
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Le polar est bien représenté
en Suisse, et depuis longtemps . Des auteurs comme Carl
Albert Loosli, encore méconnu, comme Friedrich Glauser,
Friedrich Dürrenmatt, Hansjörg Schneider, Werner
Schmidli, Peter Zeindler, Sam Jaun ou plus récemment
Petra Ivanov et Susy Schmid représentent ainsi une
tradition qui mêle la tension dramatique à
des problématiques sociales. Le roman policier n'est
plus un genre mineur, grâce notamment à la
contribution de Glauser et Dürrenmatt. Un numéro
double de Quarto, la revue des Archives Littéraires
Suisses (ALS) est ainsi consacré aux commissaires
Studer, Bärlach, Ripley, Gunten & Co. Glauser et
Dürrenmatt, justement, dont les fonds sont conservés
par les ALS, prennent une place particulière dans
ce volume, qui offre un regard approfondi sur le fondtionnement
de la bonne littérature policière.
È da diverso tempo, ormai,
che il genere poliziesco è ben rappresentato in Svizzera.
Si pensi ad autori come Carl Albert Loosli, ancora poco
conosciuto, come Friedrich Glauser, Friedrich Dürrenmatt,
Hansjörg Schneider, Werner Schmidli, Peter Zeindler,
Sam Jaun o, più recentemente, Petra Ivanov e Susy
Schmid, che delineano una tradizione dove la tensione drammatica
si mischia alle problematiche sociali. Senza dimenticare
che, soprattutto grazie ai contributi di Glauser e Dürrenmatt,
il romanzo poliziesco non è più un genere
minore. Ebbene: l'ultimo, doppio numero di Quarto,
la rivista degli Archivi Letterari Svizzeri (ASL), è
consacrato proprio ai commissari Studer, Bärlach, Ripley,
Gunten & Co. Nel volume, che offre uno sguardo approfondito
sul funzionamento della buona letteratura poliziesca, uno
spazio particolare è dedicato a Glauser e Dürrenmatt,
di cui gli ALS conservano, appunto, i fondi.
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Intuition
oder Logik? (Beat Mazenauer) |
Intuition oder Logik?
Ein Quarto-Doppelheft des
SLA zum Thema Kriminalliteratur
Spannung ist ein grundlegendes Element
der Literatur ganz generell. Eines der klassischen Beispiele,
das Aristoteles in seiner "Poetik" zitiert und
analysiert, ist der Sophokleische "König Ödipus".
Hinter dem Psychodrama, als das dieses Stück heute
meist gelesen wird, steckt ein trivialer Mord, der nur allzu
gerne vergessen geht. Ihn ernst nehmend betont Aristoteles
den Handlungsaspekt gegenüber der Kunstfertigkeit,
denn Literatur soll auch erfreuen: "Daraus ergibt sich,
dass der Dichter eher Erfinder von Handlungen sein soll
als von Versmassen, sofern er nämlich als Dichter Nachahmer
ist, und zwar Nachahmer von Handlungen." (Poetik, 9)
Handlung und Spannung wecken das Interesse der Leser und
Leserinnen, animieren zur Parteinahme und regen dazu an,
sich selbst an der möglichen Lösung eines Falles
oder Rätsels zu beteiligen. Und weil die Spannung auch
eine effiziente Selbstempfehlung im Buhlen um Aufmerksamkeit
ist, finden sich heutzutage alle Formen von spannender Literatur
auf dem Büchermarkt - nicht nur sogenannte Kriminalliteratur.
Wie weit die verführerische Spannweite reicht, hat
dieser Tage die Verleihung des Literatur-Nobelpreises demonstriert.
Der türkische Autor Orhan Pamuk liebt es, seine vielschichtigen,
opulenten Romane mit einem kriminalen Plot zu grundieren
und so ihre Handlung voranzutreiben. Pamuk stellt sich damit
in die Tradition Umberto Ecos, dessen "Name der Rose"
das wohl bekannteste Beispiel eines postmodernen Romans
mit Investigationscharakter darstellt.
Wenn selbst die "gute" Belletristik auf das Moment
Spannung setzt, stehen den Krimis, Thrillern und Detektivgeschichten
natürlich alle Türen offen. Der Trend ist unübersehbar.
Kein Verlag, der inzwischen nicht eine eigene Krimireihe
hat. Die Zahl der berühmten Kommissare vervielfältigt
sich laufend. Sherlock Holmes oder Philip Marlowe werden
heute konkurrenziert von Brunetti, Wallander, Pepe Carvalho
und wie sie alle heissen. Für die Liebhaber des klassischen
Kriminalromans reichen diese neuen Figuren freilich oft
nicht an die grossen Vorbilder heran - wie Werner Morlang
schreibt: "Man gebe mir Eric Ambler, dem es zu meinem
steten Bedauern lediglich vergönnt war, 18 Romane zu
schreiben (...) dagegen scheinen mir die Produkte eines
John Le Carré - der einzigen Kostprobe nach zu schliessen,
die ich bis zur bitteren letzten Seite auskostete - unsäglich
langweilig."
Das Zitat findet sich in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift
"Quarto" des Schweizerischen Literaturarchivs,
dessen Doppelnummer 21/22 der Krimiliteratur gewidmet ist.
Tatort Schweiz
Krimileser sind Liebhaber, die ihren
Helden auf alle Fälle folgen. Solche Helden, meist
Fahnder und Kommissare, gibt es auch in der Schweizer Literatur,
obwohl ihr detektivisches Oeuvre hier nie auf die Zahl von
18 Fällen kommt. Kommissar Hunkeler (von Hansjörg
Schneider), Camill Gunten (von Werner Schmidli), vor allem
aber Wachtmeister Studer und Kommissär Bärlach
bieten Gewähr nicht nur für beste Unterhaltung,
sondern auch für investigativen Tiefgang. Diese Detektive
decken nicht nur Fälle auf, sondern wecken auch Emotionen
und entdecken soziale Hintergründe. Dabei überzeugen
sie weniger mit Verstand und Logik, als mit Empathie und
Skepsis; letztere schlägt jeweils bei Dürrenmatt
zumindest eine überraschende Volte mehr als üblich.
Die genannten Namen, zu denen aus jüngster Perspektive
eine Vielzahl weiterer hinzuzufügen wären, rechtfertigt
also eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Schweizer
Kriminalliteratur. Kommt hinzu, dass das Schweizerische
Literaturarchiv die Möglichkeit eröffnet, über
die Nachlässe von Carl Albrecht Loosli, Friedrich Glauser,
Friedrich Dürrenmatt oder Patricia Highsmith vertiefte
Einblicke in die Krimiwerkstatt zu erhalten.
Im Einführungsbeitrag gibt Edgar Marsch eine erste
Übersicht über den "literarischen Tatort
Schweiz" mit besonderer Berücksichtigung des Romans
"Schattmattbauern" von C.A. Loosli, einem noch
zu entdeckenden Zeitgenossen Glausers, der mit diesem nicht
nur das Faible für den Krimi, sondern auch eine vergleichbare
Biographie teilt. ("Schattmattbauern" wird demnächst
neu aufgelegt im Rotpunktverlag.)
In der Tradition der Kriminalliteratur unterscheidet Marsch
zwei zentrale Traditionen. Ausgehend von Edgar Allan Poe
und Conan Doyle lässt sich die englische Detektiv-Story
als Geschichte umschreiben, die in einem eng abgesteckten
Szenario einen Fall detektivischer Logik löst und damit
die gestörte Ordnung wieder herstellt. Diesen Ansatz
haben amerikanische Autoren wie Raymond Chandler oder Dashiell
Hammett topographisch erweitert und zugleich um den Glauben
an die gerechte Ordnung erleichtert. Die Geistesakrobaten
à la Sherlock Holmes werden ersetzt durch skeptische
Outdrops wie Philip Marlowe, der sich mit Kopf, Fäusten
und vor allem etlichen Zufällen durchschlägt,
um am Ende einsehen zu müssen, dass sich keine Ordnung
wiederherstellen lässt.
Glauser und Loosli neigen klar dieser zweiten Tradition
zu, indem bei ihnen - mit eigener Erfahrung gewürzt
- das Milieu ins Zentrum rückt, sowie Zufall und Intuition
- oder wie es Wachtmeister Studer sagt: das "Gspüri".
Diesen Aspekten gehen Peter Rusterholz und Irmgard Wirtz
in ihren Analysen von Glausers Kriminalromanen detailliert
nach. Studer übernimmt in den geschlossenen Anstalten,
in denen er ermitteln muss, eine "teilnehmende Beobachtung"
fast wie ein Ethnologe ein und übt so etwas wie eine
Controlling-Funktion aus, die durch den ausschlaggebenden
Zwischenfall nötig geworden, vorher aber unterblieben
ist. Studers Mittel ist die Empathie. Hubert Thüring
zeigt sehr schön, wie er die Fälle zur Aufklärung
bringt, indem er die Zeugen und Tatverdächtigen reden,
erzählen lässt. Er selbst denkt sich dabei "nüt
apartigs", sondern hört nur genau hin und hält
sich bereit für alle Zufälle. Studer ist ein Meister
des Verhörs, ohne dass dieses als solches erscheint.
Soziale Anteilnahme und Gspüri verleihen demnach den
Romanen Glausers eine Qualität, die längst nicht
nur von der "Fuselspannung" lebt, die Glauser
in seinem "Offenen Brief über die zehn Gebote
für den Kriminalroman" für sich ablehnt.
Glauser selbst hat an dieser literarischen Qualität
gezweifelt, mittlerweile ist sie unbestritten.
Ein faksimiliertes Vernehmungsprotokoll, das mit Glauser
am 5. März 1927 Statthalteramt Liestal aufgenommen
wurde, bezeugt übrigens die praktische Erfahrung Glausers
in dieser Hinsicht.
Logik ohne Erfolg
Was das literarische Bewusstsein
wie auch der entsprechende Ruf in der Öffentlichkeit
anbelangt, ist Friedrich Dürrenmatt eine Stufe höher
eingestiegen. Seine Kriminalromane vollführten stets
eine philosophische Schlaufe, die grundsätzliche Fragen
nach Ordnung, Schuld und Gerechtigkeit stellte. Kommissär
Matthäi gerät in "Das Versprechen" ob
der Vergeblichkeit seines Hoffens, dass seine geniale Falle
zuschnappen würde, förmlich in die Irre und "verblödet".
Dies obwohl Matthäi alles richtig gemacht und logisch
durchdacht hat - doch ein wirklicher Zufall verhindert die
Aufklärung. Der Ausspruch eines ehemaligen Kommandanten
der Kantonspolizei macht dem Untertitel dieses Romans, "Requiem
auf den Kriminalroman", alle Ehre: "Diese Fiktion
macht mich wütend. Der Wirklichkeit ist mit ihrer Logik
nur zum Teil beizukommen."
In seinem Beitrag untersucht Ulrich Weber die "Zerfallserscheinungen
der Detektivfigur" vorab am Beispiel Bärlachs
sowie des Romans "Der Stümper" von Patricia
Highsmith. Wenn es um die Gerechtigkeit geht, ist "Der
Richter und sein Henker" noch immer ein wunderbares
Exempel. Bärlach verhilft mit illegitimen Mitteln der
Gerechtigkeit zum Durchbruch - doch ist Gerechtigkeit so
noch gerecht? Sie bleibt bei Dürrenmatt vielmehr ein
uneinlösbares Märchen, und bei Highsmith ein Zynismus
der Macht, wie Weber mit Blick auch aufs Genre bilanziert:
"Während Dürrenmatt zum einen die erkenntistheoretischen
Implikationen und den moralischen Schematismus des Kriminalromans
aus philosophischer Perspektive in einer souverän angeordneten
Spielanlage demontiert, bildenHighsmiths Romane mit ihrer
obsessiven, bedrückenden Erzählweise unter anderem
implizite Studien über die Psychologie des Kriminalromans."
Genuss und Spannung
Glauser, Dürrenmatt und Highsmith
legen auch eine wichtige Brücke zum Film, wie Elio
Pellin zeigt, denn keine Gattung eignet sich so sehr fürs
Filmische wie der Krimi; hinzu kommt, wie Werner Morlang
meint, "dass sich Kino-Fans und Krimi-Fans in mancher
Hinsicht ähneln (...). Der Cinéphile mag sich
für die Art und Abfolge der Einstellungen, die Montage
interessieren, dem Krimi-Leser mögen es die spannungsdramaturgischen
Kniffe antun."
Je weiter die Lektüre ins Innere des Heftes gelangt,
desto spezifischer werden die Aufsätze respektive die
behandelten Themenstellungen. Die Kenntnis des einen und
anderen Buches ist deshalb der Lektüre förderlich;
sie ist aber auch empfehlenswert, weil die literarische
Analyse natürlich nicht davor zurückschreckt,
den Mörder zu benennen - also die primäre Spannung
zu rauben. In Abwandlung eines Werbespruchs für Edgar
Wallace-Krimis lässt sich allerdings anfügen:
Es ist (fast) unmöglich, von Studer oder Bärlach
nicht gefesselt zu sein - auch bei der zweiten, dritten,
x-ten Lektüre nicht. Deren Romane und mit ihnen zahlreiche
andere wie die von Schmidli, Schneider oder von Felix Mettlers
"Der Keiler" sind wegen ihrer literarischen Qualität
nicht auf den vordergründigen Plot angewiesen.
Die analytische Strenge lockert sich gegen Ende des Heftes
wieder, in Beiträgen von und zu Werner Schmidli oder
einem Aufsatz über das Spiel mit Spannungselementen
im neuen Roman beispielsweise bei Adolf Muschg, Walter Vogt
oder Lukas Bärfuss.
Ein Kapitel über bündnerromanische Kriminalgeschichten
macht indes implizit darauf aufmerksam, dass das Heft stark
auf die Deutschschweizer Literatur fokussiert ist. Wir erfahren
demzufolge kaum etwas über die französische Krimi-Tradition
und wie sie sich in der Romandie Ausdruck findet. Stéphanie
Cudré-Mauroux widmet sich ebenfalls den Romanen von
Highsmith, und Etienne Barilier befasst sich mit dem "L'Impossible
Coupable" - will heissen: der Leser, denn dies ist
"la seule histoire policière à énigme
qui n'ait jamais été écrites: un crime
dont le coupable est (ou plutôt sera) l'un de ses
lecteurs, l'une de ses lectrices en l'occurrence".
So bleibt es bei der herkömmlichen Gewaltenteilung,
der Autor schreibt, der Detektiv scheitert im Erfolg, die
Leser und Leserinnen lesen und lesen und lesen.
Quarto 21/22: Studer, Bärlach,
Ripley, Gunten & Co. SLA, Bern 2006. 192 Seiten.
Beat Mazenauer
Page créée le: 19.10.06
Dernière mise à jour le: 19.10.06
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