Requiem für die Mutter
Um die Mütter kreiste in Jürg
Amanns Prosabuch Am Ufer des Flusses alles Erinnern
der beiden Protagonisten. Jud und der Ich-Erzähler
sind nie von ihnen losgekommen. Mit ihrer Anhänglichkeit
haben sie so gewissermassen Unehelichkeit ihrer Mütter
(über)kompensiert. Die beiden Motive Anhänglichkeit
und uneheliche Geburt spielen abermals in Jürg Amanns
neuestem Buch ein tragende Rolle.
In vier Kapiteln, vier zeitlich voneinander
losgelösten Episoden, die keine falsche Lebensfülle
suggerieren, zeichnet Amann ein feinnerviges, sensibles
Bild einer Mutter - der eigenen -, welches ein tiefes Lebensunglück
erahnen lässt. Der Erzähler ist davo mitbetroffen,
denn die Mutter trug ihre Ängste in die Familie hinein
und machte die Kinder -(un)willentlich - zu Mitopfern. Das
erste Kapitel Die Reise knüpft zu Beginn
den Knoten: der 11-jährige Junge begleitet seine Mutter
auf ihrem schwierigen Weg in die Heimat ihres Vaters, der
kürzlich verstorben ist. Niemand in dem Tessiner Bergdorf
weiss von ihrer Existenz. Ihr Vater - von Beruf Bahningenieur
- hat zuhause seine Unbescholtenheit bewahrt, indem er das
eigene Kind verheimlichte, verschwieg, ignorierte. Und mit
ihm auch die Frau, dessen Mutter. Beiden war verboten, mit
ihm je Kontakt zu suchen, wollten sie nicht seine Unterhaltszahlungen
aufs Spiel setzen. Die illegitime Vaterschaft durfte seine
Ehre nicht beflecken. Daheim war er ehe- und kinderlos geblieben
und so in Ehren gestorben. Die Abweisung, die die Mutter
durch ihn erfuhr, prägte jedoch ihr Leben. Wie ein
Stich ins Herz klingt ihr Satz: Mich hat ja nie jemand
gewollt.
Mag der Satz vielleicht auch gar
nicht stimmen, entfaltet er im anschliessenden Nachstück
doch seine starke Wirkung. Die Mutter wird von peinigenden
Depressionen und Angstanfällen heimgesucht, zu deren
Geiseln auch der Erzähler und sein kleiner Bruder werden.
Der Furor überträgt sich auf sie, indem sie sich
vor der Mutter fürchten. Die Angst, dass sie ihnen
etwas antut, begleitet sie durch die finsteren Nächte
und beschädigt heimtückisch ihr Vertrauen in die
geliebte Mutter.
Dann Schnitt. Ein Leben verfliegt
ungesagt, der Erzähler ist erwachsen geworden, die
Mutter sitzt pflegebedürftig im Rollstuhl: lebensmüde.
Abermals ein schneidender Satz, der Amanns Band den Titel
gegeben hat: Hilf mir, mich umzubringen, hatte sie
mich gebeten, allein kann ich es nämlich nicht mehr,
und dein Vater ist ja schon tot. Noch einmal überträgt
die Mutter ihre Angst, ohne böse Absicht, auf den Sohn,
der von der Bitte überfordert ist. Mehr als eine Begleitung
bis zur Tür, wo die Toten verschwinden und die Lebenden
zurück bleiben, mehr als dies vermag er nicht zu leisten.
Aber auch nicht weniger.
Mutter töten ist
ein Requiem, das in vier Kapiteln eine lebenslange, schwierige,
zugleich enge, zärtliche Beziehung auf berührende
Weise erzählt, ohne zu urteilen, ohne sie abzuschliessen.
Bewegend ist, wenn der Erzähler schildert, wie er seine
Mutter über einen steinigen Weg zu jener Bank trägt,
auf der ihr Mann, der Vater des Erzählers, während
seiner letzen Reise noch einmal gesessen ist. Ein paar verbleichende
Fotos hat er in seinem Apparat hinterlassen, eine zeigt
diese Bank, zu der die Mutter nur mit Hilfe des Sohnes findet.
In einem Gespräch hat Jürg
Amann angedeutet, dass dieses Buch womöglich einen
Abschluss bilde: Ich muss andere Themen finden und
das ist wohl auch tatsächlich die Chance, dass ich
mich endgültig von diesem Familienthema freigeschrieben
habe. Und das ist in der Versöhnung sicherlich besser
möglich als im Kampf, weil etwas, womit man versöhnt
ist, kann man nachher auch zurücklassen.
-Jürg Amann: Mutter töten.
Haymon, Innsbruck 2003. 108 S., Fr. 27.50.
Nachtrag: So behutsam Amann erzählt,
perfekt ist sein Buch nicht, wie die eher krude Beschreibung
der erwähnten Bahnreise belegt. Die Urner Topographie
gerät dabei völlig durcheinander: auf Altdorf
folgt der Teufelsstein, dann Göschenen und zum Schluss
Wassen, bevor es in den Tunnel geht... Ein kurzer Blick
auf die Karte hätte hier klärende Ordnung zu schaffen
vemocht.
Beat Mazenauer
Page créée le: 23.08.04
Dernière mise à jour le 02.09.04
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