Vor neun Jahren landete Tim Krohn mit dem Roman „Die Quatemberkinder“ einen Überraschungserfolg. Nun scheint sich dieser mit dem Nachfolgeroman „Vrenelis Gärtli“ noch zu steigern.
Wie wir bereits aus dem ersten Roman wissen, leben Quatemberkinder in mehr als einer Welt. Geboren in den Buss- und Fastenzeiten geboren, sind sie Menschen, und haben zugleich Umgang mit Hexen, Geistern und Teufeln aller Art. Melk war ein solches Quatemberkind, ein „usinnig verstuunetes“, das es mit dem Zaubern nicht eben weit brachte. Da bewirkte alles Wollen und Helfen seiner Freundin Vreneli nichts.
Der Roman „Quatemberkinder“ (siehe unten) erzählte 1998 die Geschichte von Melk und wie er lange nicht merken wollte, dass das Vreneli ihn gern mochte. Es machte für ihn sogar den Gletscher brünnen – und noch viel mehr, wie wir aus diesem neuem Buch erfahren. Vreneli hat den Melk ganz für sich zu seiner Muse erkoren, um mit seiner Hilfe und für ihn wundersame Bilder ins Gletschereis zu brünzlen.
„Vrenelis Gärtli“ ist das Gegenbuch zu „Quatemberkinder“, doch es ist keine simple Fortsetzung, sondern eine Steigerung aus anderer Perspektive, deren Ränder akkurat in die bereits bekannte Handlung hinein passen. Erzählt wird hier die Geschichte von Vreneli. Im Unterschied zum stillen Melk ist es ein echter Wildfang, das am liebsten in die Wildi „fenderen“ geht und mit seinen Zaubereien die Jäger verschreckt. Vreneli entzieht sich jeder sozialen Kontrolle, doch vergelstert es sich selbst manchmal den Kopf vor lauter Geistern und Alleinsein.
Mythos und Logos
In seiner Familie herrscht seit je die sonderbare Ordnung, dass die Männer für die Kinder sorgen, während es die Frauen in die Welt hinauszieht. Die Frauen verbindet ein geheimnisvolles Band mit der Schöpfung, das ihnen auch Zugang selbst zum Herrgott gibt. Doch diese archaische Welt voll Zaubereien und mythischer Innigkeit neigt sich dem Ende zu.
Die Wende markiert gewissermassen der Brand von Glarus im Mai 1861. Melk und Vreneli, die endlich zueinander gefunden haben, symbolisieren den Übergang in die neue Ordnung. Zwar redet Vreneli den Glarnern ins Gewissen und rät ihnen, wie sie ihr Dorf gescheit neu aufbauen, damit es nicht wieder abbrennt. Doch es ist Melk, der nun das Regieren übernimmt. So obsiegt der Logos über den Mythos, und der archaische Zauber verschwindet aus der Welt. Melk
Indem er diese Zäsur festhält, geht Tim Krohn über die „Quatemberkinder“ hinaus und stellt seine Zaubergeschichte einerseits in einen kulturhistorischen Kontext, andererseits auf ein gesellschaftspolitisches Fundament. Das „Gnuusch“ und „Dsunderobsi“ mit den Identitäten und Rollenmustern, das Vreneli wunderbar verkörpert und selbst den Herrgott in seinem Himmelreich beschleicht, wird von den Menschen in die rationale Ordnung der Moderne überführt, der sich Melk eher gewachsen zeigt. Angesichts dessen zöpflet Vreneli in Ruhe sein Leben zu Ende und verlässt diese Welt. Käme es dereinst nochmals wieder, wohin wohl?
Dem unnachahmlichen Mix aus deutscher Hochsprache und Glarner Dialekt, mit dem Tim Krohn in den „Quatemberkindern“ überraschte, ist er treu geblieben. Mit verblüffender Souplesse und Geschmeidigkeit formt er die beiden Idiome zu einem zauberhaften Erzählstrom, dass es selbst vielen Glarnern den Atem verschlagen dürfte ob dem poetischen Reichtum, wenn es seine Figuren hier wäffelen, vergüegelen, ranzenplanggen und flamänderen, dass er nur so eine Art hat.
Derart spiegelt sich in der Sprache selbst der Grundkonflikt zwischen Mythos und Moderne. Das nicht geringste Verdienst dabei ist, dass Krohn die Feinheit der Wortwahl auch erzählerisch in subtilen Zwischentönen aufhebt und so nicht selten wundersam komische Wirkung erzielt. Beispielsweise, wenn Vreneli aus der Perspektive der Unwissenden das Tun in einem Kasino beschreibt und so gleich entzaubert.
Hörbuch der Quatemberkinder
Das Miteinander von Hochsprache und Dialekt verkörpert der in Nordrhein-Westfalen geborene Krohn gleich selbst, wenn er mit geschliffener Diktion aus seinem Buch liest. Parallel zum neuen Roman erscheint sein Vorgänger als Hörbuch, vom Autor selbst gelesen. Dieses bietet so gleich gute Gelegenheit, erstens sich in Vrenelis Idiom einzuhören und zweitens mit der Gegengeschichte von Melk vertraut zu werden.
Tim Krohn: Vrenelis Gärtli. Roman. Mit einem Glossar im Anhang Eichborn Berlin, Berlin 2007. 365 Seiten.
Tim Krohn: Quatemberkinder und wie das Vreneli die Gletscher brünnen machte, gelesen vom Autor. Hörbuch, 6 Audio CDs (435 Min.). Kein&Aber, Zürich 2007.
Tim Krohn: Quatemberkinder (1998)
Tim Krohn ist ein erstaunlicher Autor. Drei Prosabücher sind bisher von ihm erschienen und jedes präsentiert sich ganz anders. In „Der Schwan in Stücken“ (1994) versuchte er sich in einer etwas steifen Kunstprosa, im (etwas zu) umfangreichen „Dreigroschenkabinett“ (1997) übersetzte er die bekannte „Bettleroper“ in die politischen Verhältnisse des zusammengeflickten Deutschlands. Und nun taucht er im neuen Roman „Quatemberkinder und wie das Vreneli die Gletscher brünnen machte“ präsentiert der in Nordrhein-Westfalen geborene und in Glarus aufgewachsene Autor ein Heimatbuch, das so gar nicht in die alpenländische Klischeewelt passen will.
In den engen Talgründen und an den stotzigen Hängen zwischen Glarus, Linthal und Elm scheinen die Sagen besonders guten Nährboden zu finden. Vor allem rund um den Glärnisch schiessen sie heftig ins Kraut, da, wo die zwei Quatemberkinder, das Vreneli und der Melk, wohnen.
„Quatemberkinder leben inmitten der Menschen und doch in einer anderen Welt“, einer zauberischen, wandelbaren Welt. Vreneli neckt den Melk, der nicht weiss, dass sie ihn liebt, in der Gestalt eines Füchsleins oder macht sich weitherum durch eine abendliche Rotglut auf dem Glärnischfirn bemerkbar. Melk dagegen hütet auf der Dräckloch-Alp am Südhang des Glärnisch Kühe - bis sonderbare Dinge geschehen und am Ende die Alp von einem Felssturz begraben wird. Daraufhin wird er als Zusenn auf der Chameralp zuoberst im Linthal angestellt, beim Stüssi-Bauern, der auch zaubern kann und zudem im Sonderbundskrieg für die Freiheit gekämpft hat. Doch dann geht er sich selbst verloren, flieht erinnerungslos vom Teufel gehetzt ins Schwyzerische und nach Altdorf, lernt da das Doktern und kehrt 1861, im Jahr des Brandes von Glarus, endlich wieder zu seiner Vriinä zurück. Die Liebe findet sich.
An dieser Geschichte wäre nichts Besonderes, erzählte sie Tim Krohn nicht auf unnachahmliche Weise. Seine Sprache ist durchsetzt mit Glarnerdialekt - ein Glossar und Übersetzungen am Ende des Bandes helfen bei der Lektüre. Nicht nur die direkte Rede, auch der Erzähltext verwandelt sich das heimische Idiom an: „So hockte er auf das Müürli und sass nur da und liess es auf sich niederschneien und losete dem Schweigen und fand erst, dass es recht tötele.“ In diesem Sprachbett, das die traurig-schöne Stimmung auf bezaubernde Weise wiedergibt, lässt Krohn eine Heerschar von Zauber- und Geisterwesen ihren Schabernack treiben. Tim Krohn erzählt, wie Sagen weniger übersinnliche als sinnlich materielle Qualität besitzen. Sie unterhalten, bannen Ängste, erklären Flurnamen und nicht zuletzt spiegeln sie das kollektive Bewusstsein der Menschen, die sie erzählen. Mag an Zauberei glauben, wer will, stärker hallen in den Sagen die moralischen Forderungen der Zeit nach.
Krohns virtuose Wechsel zwischen Dialekt und Hochsprache beziehungsweise zwischen Sagen und Alltag widerspiegelt ein natürliches Verhältnis der Menschen zu den Geister- und Zauberwesen. Seine eigentümliche Modernität, die sich dem heimatlichen Schönreden entzieht, verhindert, dass „Quatemberkinder“ ins Genre des idyllischen Heimatromans abgleitet. Ohne Schaden darf sich da am Ende sogar die Liebe zwischen Melk und Vreneli einstellen.
Tim Krohn: Quatemberkinder und wie das Vreneli die Gletscher brünnen machte. Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt 1998. 248 Seiten.
Beat Mazenauer
Page créée le: 20.09.07
Dernière mise à jour le: 20.09.07
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