Wer hat’s getan? Diese Frage ist nicht in jedem Fall der beste Gradmesser für einen guten, spannenden Kriminalroman. Manchmal heisst sie auch: Wie hat er oder sie es getan? Oder: Kommt der Mörder ungestraft davon? Das Krimi-Genre ist ein weites Feld. Immer häufiger greifen Bücher auf anregende Plots zurück, ohne dass sie sich selbst als Kriminalromane etikettieren würden. Ein gutes Buch darf ja durchaus auch spannend zu lesen sein.
Die stumme Zeugin
Mireille Zindel spielt in ihrem Debütroman „Irrgast“ mit all diesen Elementen, bloss um damit den Krimiplot selbst in Zweifel zu ziehen. Wie lässt sich ein Mord aufklären, wenn das Opfer ganz und gar tot ist, die einzige Zeugin schweigt und der Detektiv sich nicht durch besondere Hartnäckigkeit auszeichnet. Die Fahnungsversuche von Detektiv Krieg gleichen eher einem Stochern im Nebel. Auf das verstockte Schweigen der Erzählerin Elisabeth Vil – die stumme Zeugin und Freundin des Opfers – bohrt er nicht weiter nach. Während sie ihm gegenüber also schweigt, plaudert sie dafür den Lesern mehr und mehr Hinweise aus, die verraten, dass sie mehr über die Messerattacke auf ihren Freund weiss. Im Grunde genommen hätte Elisabeth den Toten selbst gerne umgebracht.
Hat sie sogar?
Grund dafür hätte sie wohl gehabt. Die Liebe zwischen Erzählerin und Opfer war ein zähes Ringen. Davon erfährt auch Elisabeths Nachbarin Anna, die sich auf listige und verräterische Weise in deren Leben einschleicht. Die beiden kochen zusammen, gehen spazieren, und reden manchmal miteinander. Diese Zweisamkeit verwischt jedoch nicht den Eindruck, dass es zwischen ihnen womöglich ein tückisches Missverständnis gibt.
Mireille Zindel präsentiert einen höchst eigenwilligen, nebelhaften Kriminalroman. Wo sich darin eine Lösung abzeichnet, bleibt auch diese mysteriös. Die Erzählung selbst konzentriert sich im Wesentlichen auf das tägliche Einerlei, das die autistisch veranlagte Elisabeth haarklein, mit lakonischer Sachlichkeit rapportiert. Derart raubt sie dem Krimi alle Aufgeregtheit, die mit zum Genre gehört – dies freilich um den Preis, dass die daraus resultierende träge Stimmung die Geschichte zeitweise auch zu ersticken droht. Die schöne Schluss-Volte verleiht dem Buch dann aber nochmals einen unverhofften Dreh.
Unruhe in der Bank
Eine falsche Fährte legt der Wirtschaftsjournalist Daniel Suter bereits im Titel seines Romans „Der Insider“. Ein solcher ist John G. Derungs zweifellos, ein Insider in der Sparte Private Banking. Er hat sich aus kleinbürgerlichen Verhältnissen hochgearbeitet, deshalb blickt er nicht gerne zurück. „Es ging niemanden in seiner Bank etwas an, wo er aufgewachsen war“. Dies schützt ihn allerdings nicht vor heiklen Lebenslagen. Als nach Jahren des Erfolgs seine verlässliche Sekretärin aus der Bank ausscheidet, steht er vor der heiklen Aufgabe, diesen Vertauensposten neu zu besetzen. Unter den Bewerberinnen trifft er eine überraschende und keinesfalls unproblematische Wahl. Schon während des Bewerbungsverfahrens hat Derungs herausgefunden, dass seine Favoritin Edith Morgan einen Makel besitzt. Vor Jahren war sie wegen Beihilfe zur Erpressung zu einer bedingten Gefängnisstrafe verurteilt worden. Er hat sich dennoch für sie entschieden, nicht nur wegen ihrer Resolutheit, sondern auch, weil er glaubt, sein Insiderwissen verleihe ihm eine besondere Macht. Wenn nötig, würde er sie einsetzen.
Derungs ist demnach ein doppelter Insider, er verfügt auf zwei Ebenen über intime Kenntnisse. Aus dieser Konstellation entwickelt Daniel Suter einen psychologisch stimmigen, auf überraschende Weise spannenden Roman. Das Insidergeschäft wird vorerst auf der persönlichen Ebene abgewickelt, es ist sozusagen eine ‚Déformation professionelle’ des Anlageberaters. Derungs spielt mit der Ungewissheit, ob sich die neue Sekretärin einen Fauxpas erlaubt. Diese aber beweist schnelle Auffassungsgabe und mentale Stärke, auch als Derungs sich in sie zu verlieben beginnt. Die Frage ist: Wer verliert dabei zuerst die Nerven?
Gekonnt und souverän steuert Suter seinen Plot auf die schiefe Bahn. Die Unsicherheit nimmt von Derungs, dem kühlen Privatbanker, mehr und mehr Besitz, bis er sich dazu hinreissen lässt, seine exzellente Position aufs Spiel zu setzen. Die einzelnen Stationen folgen sich mit glaubhafter Konsequenz, erst der verrückte Showdown erweist sich zuguterletzt als etwas zuviel des Guten. Trotz dieses Vorbehalts verblüfft Suters Roman durch die genaue literarische Decollage eines Erfolgsmenschen, der mit Geschäften besser umzugehen weiss als mit Gefühlen.
Schier Unmögliches geschieht
Einen anderen Weg an den Rändern der Logik entlang geht der Kolumnist und Journalist Linus Reichlin in seinem ersten Roman „Die Sehnsucht der Atome“. Sein Kommissar Hannes Jensen pflegt ein seltsames Hobby: die Quantenphysik. Ihn entzückt, wie sie theoretisch das Unmögliche zulässt. Quantenphysikalisch könnte es irgendwo im Kosmos geschehen, dass aus den Splittern von einem kaputten Ei im Fallen wieder ein Ganzes entsteht. Daher scheint Jensen auf alles gefasst. Als er aber fünf Tage vor seiner Pensionierung unverhofft über einen rätselhaften toten Amerikaner stolpert, ist er trotzdem überrascht. Krankheit oder Mord? Jensen rätselt, wohin dessen zwei Kinder verschwunden sind, und woran wenig später auch die Frau des Amerikaners an derselben völlig unwahrscheinlichen Ursache stirbt.
Jensens ist unschlüssig, doch der Auftritt einer blinden Frau namens Annick O’Hara reisst ihn aus der Lethargie. Sie scheint sich für den Fall zu interessieren und ermuntert Jensen zu einer Reise quer durch Amerika bis in die nordmexikanische Sierra. Immer stärker verwickelt sich der Fall. Um sich abzulenken, träumt Jensen von Quantenphysik, der er sich hingeben will, sobald er den Auftrag los hat. Wie ein frei schwebendes Elektron fühlt auch er sich manchmal einsam, auf der Suche nach einem Proton. Doch seine Reisepartnerin scheint dafür nicht geeignet. Allzu zielstrebig lenkt sie ihn auf ein ungewisses Ziel hin. Zähne knirschend ordnet sich Jensen unter.
Linus Reichlins literarisches Debüt stellt sich in eine moderne Krimi-Tradition, die für sich keine stringente Logik mehr behauptet – David Lynchs „Twin Peaks“ lässt grüssen. Die Figuren handeln willkürlich und sprunghaft, was sich zumindest menschlich nachvollziehen lässt. Ratlosigkeit ist eine humane Tugend. Einzig die blinde Begleiterin scheint einen Weg zu sehen.
„Die Sehnsucht der Atome“ schwankt munter zwischen Spannung und Groteske. Oft gelingt dies listig und gut. Gelegentlich neigt Reichlin aber auch dazu, die Geschichte allzu sehr auszupolstern. Dabei wirkt insbesondere die Figur O’Haras nicht immer schlüssig und glaubhaft. Handkehrum weiss sich der gewiefte Kolumnist Reichlin mit hinreissenden Szenen herauszureden – wie etwa der Begegnung mit dem bescheidenen Gastwirt Gonzales. Die quantenphysikalischen Erörterungen Jensens entpuppen sich am Ende als gewitzter metaphorischer Dreh, auch deshalb, weil Reichlin unverhofft sogar die Vernunft wieder in gewisse Rechte einsetzt.
Beat Mazenauer
Mireille Zindel: Irrgast. Roman. Salis Verlag, Zürich 2008. 134 Seiten
Daniel Suter: Der Insider. Roman. Edition 8, Zürich 2008. 224 Seiten.
Linus Reichlin: Die Sehnsucht der Atome. Kriminalroman. Eichborn Berlin, 2008. 360 Seiten.
Page créée le: 22.08.08
Dernière mise à jour le: 22.08.08
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