Jörg Steiner
Jörg Steiner: Wer tanzt schon zu
Musik von Schostakowitsch. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2000. 104
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Jörg Steiner
/ Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch |
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"Alles, was er erzählt,
erzählt er allen, und wenn er einem etwas anderes
erzählt, erzählt er nachher allen, er habe
einmal einem etwas anderes erzählt, das sei aber
auch wahr.Er bleibt bei der Wahrheit.Dass die Wahrheit
eine Geschichte ist, heute eine andere als morgen,
ist nur natürlich. Das kann man nachprüfen
am Most, zum Beispiel. Im Frühling blüht
der Apfelbaum nach dem Kirschbaum, die Apfelblüten
sind nicht weiss, sondern rosa, dann wachsen die Früchte
heran, Goldparmäne oder Sauergrauech oder Bernerrose,
und die Früchte werden, wenn sie reif sind, zur
Presse gebracht und zu Apfelsaft gepresst, das ist
dann Süssmost, den kann man trinken oder gären
lassen, bis er sich zu saurem Most verwandelt, der
viel gesünder ist als Süssmost, und so ist
es eben mit der Wahrheit auch. Würde sie sich
nicht verwandeln, wie alles, was lebt, müsste
man sagen, die Wahrheit sei tot.Da ist nichts zu machen:
Eisinger spricht alles aus, was ihm durch den Kopf
geht."
Jörg Steiner: Wer tanzt schon
zu Musik von Schostakowitsch. Roman. Suhrkamp Verlag,
Frankfurt 2000. 104 Seiten, Fr. 29.50.
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Bibliographie |
Abendanzug zu verkaufen, Erzählung,
Benteli, Bern, 1961.
Strafarbeit, Roman, Walter, Freiburg/Br., 1961 (Suhrkamp,
Frankfurt/M., 1978).
Der schwarze Kasten, Spielregeln, Walter Verlag, Freiburg/Br.,
1965.
Ein Messer für den ehrlichen Finder, Roman, Walter Verlag,
Freiburg/Br., 1971 (Suhrkamp, Frankfurt/M., 1980).
Auf dem Berge Sinai sitzt der Schneider Kikrikri, ein Geschichtenbuch,
Luchterhand, Neuwied, 1969.
Rabio, Filmtext, Regenbogenreihe, Zürich, 1970.
Durab, texte parlé, trad. par Christine Kübler,
Collection de l'Arc-en-ciel, Zurich, 1970 (Originaltitel:
Rabio).
Le cas du détenu Bund, roman, trad. par Christine Kubler,
Denoël, Paris, 1970 (Originaltitel: Strafarbeit).
Pele sein Bruder, Middelhauve, Köln, 1972.
Un couteau dans l'herbe, roman, trad. par Christine Kübler,
Denoël, Paris, 1972
(Originaltitel: Ein Messer für den ehrlichen Finder).
Schnee bis in die Niederungen, Erzählung, Luchterhand,
Neuwied, 1973.
Als es noch Grenzen gab, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt/M.,
1976
Eine Giraffe könnte es gewesen sein, Geschichten, Auswahl,
Reclam, Stuttgart, 1977.
Das Netz zerreissen, Roman, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1982.
Olduvai, Geschichten, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1985.
Un accroc dans le filet, roman, trad. par Anne Cuneo et Véronique
Deshayes, Editions de l'Aire, Lausanne, 1988
(Originaltitel: Das Netz zerreissen).
Fremdes Land, Erzählung, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1989.
Weissenbach und die Anderen, Roman, Suhrkamp, Frankfurt/M.,
1994.
Der Kollege, Suhrkamp, Erzählung, Frankfurt/M., 1996.
Le collègue, trad. par Gilbert Musy, Editions Zoé,
Carouge-Genève, 1996.
Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch, Erzählung,
Suhrkamp, Frankfurt/M., 2000.
Bilderbücher in Zusammenarbeit
mit dem Illustrator Jörg Müller
Der Bär, der ein Bär bleiben
wollte, Sauerländer, Aarau, 1976.
Un ours, je suis pourtant un ours, Duculot, Paris, 1976.
Die Kanincheninsel, Sauerländer, Aarau, 1977 (Unionsverlag,
Zürich, 1998).
L'île aux lapins, trad. par Laurence Bourguignon,
Duculot, Paris, 1978 (Mijade, Namur, 1999).
Die Menschen im Meer, Sauerländer, Aarau, 1981.
Der Eisblumenwald, Sauerländer, Aarau, 1983 (Unionsverlag,
Zürich, 1997).
Der Mann vom Bärengraben, Sauerländer, Aarau,
1987.
Aufstand der Tiere oder Die neuen Stadtmusikanten, Sauerländer,
Aarau, 1989.
Les nouveaux musiciens de Brême dans la Révolte
des animaux de la pub, traduit par Gilbert Musy,
L'Ecole des loisirs, Paris, 1990.
Was wollt ihr machen, wenn der schwarze Mann kommt, Sauerländer,
Aarau, 1998.
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Der
Ton macht die Musik |
"Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch"
heisst der neue Roman von Jörg Steiner. Hinter dieser
langen Überschrift verbirgt sich ein schmales Buch,
das seinen Reichtum in der Reduktion und Verdichtung offenbart.
Der Ton macht die Musik
1996 erschien von Jörg Steiner
der schmale Roman "Der Kollege". Mit seiner Entlassung
hat der Arbeitslose Bernhard Greif auch seine gesellschaftlichen
Bindungen verloren. Er ist aus der Ordnung der Ordnungsliebhaber
herausgefallen. Allein, mit gesenktem Blick schlendert er
durch die Strassen der Kleinstadt und registriert, was um
ihn herum vor sich geht. Gesellschaft leistet ihm dabei
einzig sein letzter Kollege, der, bevor er sich umgebracht
hat, mit ihm die Erinnerung an das Arbeitsleben teilte.
In Greifs Erinnerungen wird dieser Kollege nochmals zum
Leben erweckt, als Spielfigur der Phantasie.
Erzählen heisst flunkern, auch
erfinden. Erfinden, um zum Beispiel die Einsamkeit auszufüllen.
In abgewandelter Form kehrt dieses Motiv in Steiners neuem
Roman wieder. Goody Eisinger ist ein Erzähler, der
mit seinen Geschichten die Leute unterhält und sie
derart für sich einnimmt. Im Unterschied zu Greif hat
er noch Arbeit. Er amtet als Aufseher im Museum für
Vorgeschichte, dessen verbleichende Schätze es ihm
erlauben, mit Phantasie darüber zu fabulieren. Die
Besucher wiederum lieben diese Geschichten, nur den Bruder
nerven sie. Immer ist ihm Goody mit seinem sonnigen Gemüt
vorgezogen worden, obwohl er doch besser in der Schule war.
Dass er die frühere Anstellung als Vorarbeiter beim
städtischen Werkhof wegen einer Unterlassungssünde
verlor, hat ihn nicht aus der Bahn geworfen. Goody trägt
es mit Einsicht und ohne Reue, er hat die verstellte Schrift
des Denunzianten längst erkannt.
Verzweifelte Bruderliebe
Goody sei ein Philosoph, sagen alle;
ein zurückhaltender Mensch, der keinem was zuleide
tut, ein feiner Geniesser, der dazu wenig bedarf. Etwas
Musik von Schostakowitsch bei offenem Fenster, eine Flasche
Wein und einen Mithörer, der diese Klänge liebt
wie er. Doch auf einmal ist er verschwunden und mit ihm
die Amerikanerin, die ihn im Museum immer besucht hat.
Goody ist der Held dieses schmalen
Romans, doch nicht sein Erzähler. Goodys Bruder, der
ihm in verzweifelter Liebe zugetan ist, sucht nach Spuren
des Verschwundenen. Er berichtet, was er über Goody
erfährt und wie er sich selbst an ihn erinnert. Krampfhaft
sucht er nach der Wahrheit, einer Wahrheit, die Goody nie
angestrebt hat. "Alles was er erzählt, erzählt
er allen", heisst es gleich zu Beginn des Buches, und
auch wenn er allen etwas anderes erzählt, wahr ist
es dennoch. Wahrheit gibt es nur im Plural, und den Zweifel
schliesst sie notwendigerweise mit ein: Wahrheit je nachdem.
Damit kann sich der Bruder, der es zu einer bescheidenen
Karriere als Versicherungsagent gebracht hat, nicht abfinden.
Er fragt herum und ärgert sich, dass ihm die Freunde
Goodys mit Zurückhaltung begegnen.
Wie schon "Der Kollege"
schweigt sich auch dieser neue Roman über die Wahrheit
aus. Steiner deutet nur an, setzt wie zufällig Anekdoten
und Erinnerungen nebeneinander und reduziert, verdichtet
Goodys Leben aufs scheinbar Unwesentliche. Doch: Cest
le ton, qui fait la musique. Die Brüchigkeit dieses
Berichts offenbart sich zwischen den Zeilen. Hier verbergen
sich, oft nur halbherzig verdeckt, brüderliche Ressentiments
und Rankünen.
Schwebendes Verfahren
Nicht allein, dass er sich schon
immer als kleiner Bruder zurückgesetzt und durch Goodys
offenes Wesen herausgefordert gefühlt hat, dem Bruder
sitzt auch eine alte Schuld im Nacken. Seit einem dummen
Unfall beim kindlichen Krocketspiel ist Goody auf dem linken
Auge beinahe blind. Dass ihm dieser diese Unbedachtsamkeit
nicht mehr nachzutragen scheint, verstärkt bloss seinen
Argwohn. Einerseits würde er ihm gerne etwas zuliebe
tun, zum Beispiel dabei helfen, die Fahrprüfung zu
bestehen, indem er ihm beim Augentest einflüstern würde.
Andererseits träumte es ihm, nur einmal zwar, "dass
es ihm gelingt, Goody umzubringen". In diesem wahren
Märchen jedoch vermag Kain nichts gegen Abel.
Steiners Roman ist ein schwebendes
Verfahren. Was daran wahr ist, kann nur erahnt werden, zum
Beispiel zwischen den Zeilen. Aus lichten Anekdoten und
ein paar dunklen Gedanken knüpft er eine wunderbar
leichte Textur, in der sich die vermeintliche Bruderliebe
selbst ins Netz geht. Der aufgestaute Hass des Bruders bleibt
ebenso in die luftigen Zwischenräume verbannt wie die
soziale Härte der Aussenseiterexistenz, wie Steiner
sie in "Der Kollege" beschrieben hat.
Jörg Steiner ist hier seinem
leichten, auf das unscheinbar Wesentliche verdichteten Erzählstil
treu geblieben. Harmlos, arglos wirkt er manchmal, doch
der Schein trügt. In der Schilderung des Bruders verbergen
sich Heimtücke und Kummer, die sich in nur halbherzig
verdeckten Ressentiments Luft verschaffen.
Die eigentliche Ironie dieses "Steckbriefs
zum Unkenntlichmachen einer Person" aber besteht darin,
dass der verbissene, misstrauische Wahrheitssucher auch
nur ein Fabulierer ist. Vielleicht gibt es Goody ja gar
nicht, vielleicht hat ihn der Bruder nur erfunden, um sich
eine leichte Alternative zu seinem verbissenen Leben vorzustellen.
Aus Gehörtem und Erinnertem spinnt er die Legende von
Goody, dem lieben Kerl. Obs wahr ist, ist unwichtig.
Die Gesetze des Erzählens zählen schliesslich
auch für den Bruder. So lässt ihm Steiner am Ende
gar Gerechtigkeit widerfahren.
Jörg Steiner: Wer tanzt schon
zu Musik von Schostakowitsch. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt
2000. 104 Seiten, Fr. 29.50.
Page préparée par Beat
Mazenauer
Page créée le 09.10.01
Dernière mise à jour le 09.10.01
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