Peter K. Wehrli
Katalog von allem, 1111 Nummern aus
31 Jahren, Albrecht Knaus Verlag, München 1999 320 S., 39.90 Fr
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Peter K.
Wehrli / Katalog von allem |
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Peter
K. Wehrli, 1939 geboren, ist ein Weltreisender,
der in Zürich wohnt. Seit mehr als drei Jahrzehnten
arbeitet er als Kulturredakteur beim Schweizer Fernsehen,
für das er zahlreiche Filmdokumentationen produzierte.
Im Sommer 1999 widmete ihnen der Kultursender 3sat
eigens eine Werkschau.
Wehrlis literarisches
Werk umfasst Prosa und ein Theaterstück, unbestritten
sein "chef-d'oeuvre" ist der "Katalog
von Allem", 1111 Notate, die er in 31 Jahren
auf seinen Reisen gesammelt hat.
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148. das Ankommen
die erneute Feststellung, dass überall alles
anders ist; dass Beirut also anders aussieht, als
ich mir Beirut vorgestellt habe, auch anders, als
es der Klang des Namens versprochen und Fotografien
angekündigt haben; es ist eben so: Ankommen,
das heisst Vorurteile korrigieren!
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Eine
Ahnung von der Fülle der Welt/ Der
Bund |
In seinem «Katalog von
Allem» hat der Fernsehjournalist Peter K. Wehrli 31
Jahre lang versucht, das Chaotische der Welt numerisch-literarisch
in der Griff zu kriegen.
Eine Ahnung von der Fülle
der Welt
Charles Linsmayer
Dass die durch das Fernsehen, den
Film, aber auch durch den Roman vermittelte Welt lauter
zufällige Einzelelemente zu einem bündigen Ganzen
verschweisst und darum in höchstem Grade scheinbar,
unwahr und hypothetisch ist - das hat die literarische und
künstlerische Avantgarde seit langem erkannt. Mit Verfahren
wie dem «nouveau roman» oder dem experimentellen
Film suchte sie darauf zu reagieren und sich der Möglichkeit
anzunähern, die Fülle der Welt in ihrer Heterogenität
und Unverbundenheit zu spiegeln.
Peter K. Wehrli, geboren 1939 in
Zürich, hat, obwohl er sich eigentlich seit jeher als
Schriftsteller verstand , ein ganzes Arbeitsleben lang beim
Fernsehen gearbeitet: erfolgreich und unter Schaffung eines
filmischen Oeuvres, das - kürzlich war bei 3sat eine
Retrospektive davon zu sehen - durchaus eine eigenständige
Handschrift verrät. Und doch ist es eigentlich nur
einleuchtend, dass auch Wehrli, sozusagen aus der alltäglichen
TV-Praxis heraus, nach einem Weg suchte, aus der irritierenden,
als verlogen durchschauten Bilderfülle heraus zu einer
Aufzeichnungsart zu finden, die dem Chaotisch-Ungeordneten
der modernen Wirklichkeit gerecht wird, die die Dinge nicht
in einen falschen Zusammenhang stellt, und gleichwohl auf
eine einfache Weise vermittelbar ist.
Premiere auf Englisch
Es ist eine hübsche Geschichte,
dass Wehrli seinen «Katalog von Allem» 1968
deshalb begonnen habe, weil er bei einer Reise nach Beirut
den Fotoapparat vergessen habe und darum gezwungen gewesen
sei, den ersten, 1974 in La Paz auf Englisch erschienenen
«Catalogue of the 134 most important observations
during a long railway journey» zu schreiben. Abgesehen
davon, dass die nunmehr 1111 Eintragungen, die alle aus
einem Relativsatz zu einem Titelwort bestehen, höchstens
die Legende zu einem Detail liefern, aber niemals das ganze
fotografische Bild, ist Wehrlis Katalog-Optik viel zu ausgeklügelt
und sein Verfahren viel zu rigoros, als dass der Zufall
jenes spontanen Beginnens mehr als die Initialzündung
zu einer längst geplanten ganz besonderen Art von Wirklichkeitsvermittlung
gewesen sein könnte.
In Nummer 1036 kommt Wehrli selbst
auf das Prinzip seines Protokollierens zu sprechen. Wie
Abel Manta im Gemälde «Die Äpfel»
von 1925 zwar eine Frau im grünen Kleid, einen Zeitung
lesenden Mann, einen Tisch und eine Weinkaraffe zeichnet,
aber durch den Titel den Blick dennoch ganz auf das Detail
der auf dem Tisch stehenden Schale mit den fünf Äpfeln
lenkt, «diese Schärfenverlagerung vom Paar und
seinem angedeuteten Schicksal auf die fünf Äpfel»
- das ist genau das Prinzip, das Wehrli in seinem Katalog
1111mal zur Anwendung bringt.
Auf die Nase «reduziert»
So beschreibt er in Nr. 781, «Die
Nase», nicht die Personalweihnacht eines Lissaboner
Hotels, sondern bloss das nebensächliches Requisit
einer Clown-Nase, die er am andern Tag vom Boden aufhebt.
Nr. 537, «Die Zukunft», beschreibt nicht die
Begegnung mit Charlie Chaplin im Mai 1969 während einer
Vorführung des Films «Circus», sondern
bloss Chaplins Weinen angesichts seines jugendlichen Abbilds
auf der Leinwand - ein Gefühlsausbruch, der den Katalogisten
mutmassen lässt, dies seien die Tränen eines Mannes,
«dessen Zukunft schon vorbei ist». Auch das
Festival von Cannes, das Wehrli jahrzehntelang für
das Fernsehen besuchte, erscheint nur in wie zufällig
wirkenden Einzelbeobachtungen. Unter «Die Künstlichkeit»
ist z. B. das unechte Gehabe, die «déformation
professionelle» festgehalten, im Zeichen derer sich
in Cannes das Filmische mit dem Realen vermischt und sich
alle Beteiligen wie Akteure in einem Leinwanddrama zu geben
scheinen.
Dasjenige eines Katalogs habe sich
ihm als «das taugliche Mittel» erwiesen, «die
Flut der Erfahrungen ordnend in den Griff zu bekommen»,
sagt Wehrli in der editorischen Notiz, und tatsächlich
lassen die 1111 Schnappschüsse auf irgendwelche Details
von Details zumindest dumpf ahnen, welcher ungeheuer grossen
Textmassen es bedürfte, um nach dem gleichen akribischen
Modell die ganze Fülle der Wirklichkeit festzuhalten
- und was für eine Anmassung es letztlich ist, auf
ein paar Hundert Seiten Roman den Anspruch einer solchen
Vollständigkeit zu erheben...
Ganz vereinzelt stehen die Eintragungen
aber natürlich nicht da, und im Kopf des Lesers bilden
sich bei der Lektüre durchaus auch zusammenhängende
Komplexe - aber nicht auf lineare, sondern auf assoziative
Weise. Abgesehen von den Festspielen von Cannes, die in
Beobachtungen, Bonmots, Interview-Fetzen usw. als ein Familientreffen
der Weltfilmgemeinde protokolliert werden, prägt sich
einem vor allem Brasilien mit seiner Andersartigkeit und
seiner Armut nachhaltig ein - gerade weil keine zusammenhängende
Schilderung geboten wird, sondern Bilder und Sätze
unverbunden nebeneinander stehen bleiben: die Farben und
Gerüche von Rio z. B. oder der Satz, den ein Gassenjunge
von Sao Paulo zu einem Fernsehreporter sagt: «Sterben,
das passiert oft, besonders unter uns Kindern.»
Kein Klatsch, nichts Intimes
Obwohl darin von H. C. Artmann über
Bob Dylan, Peter Handke und John Huston bis zu Andy Warhol
und Orson Welles die ganze Film- und Literaturszene präsent
ist, bleibt Wehrlis Buch konsequent bei seiner asketischen
Anlage und macht nicht einen Augenblick auf Klatsch und
Sensation, ja auch über den Verfasser selbst erfährt
man aus all den Notaten nie etwas Privates oder Intimes.
Und dies, obwohl man eigentlich nicht ungern erfahren würde,
wer er denn nun eigentlich sei, dieser schreibende TV-Regisseur,
der die Chuzpe hat, die ganze Welt in einem trockenen Katalog
zu versammeln, ohne dem Leser auch nur ein einziges Mal
die Aufgabe abzunehmen, die protokollierten Phänomene
und Beobachtungen selbst zu Komödien oder zu Tragödien
zusammenzufügen.
Peter K. Wehrli. Katalog von allem.
1111 Nummern aus 31 Jahren. Albrecht Knaus Verlag, München
1999. 320 S., 39.90 Fr.
Erschienen in Der Bund, 23. Dezember
1999
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Bibliographie
- Filmographie |
Bibliographie
Dieses Buch ist gratis, Anthologie,
hg. von P.K. Wehrli und Theo Ruff, Gratis-Verlag 1971.
Katalog der 134 wichtigsten Beobachtungen während einer
langen Eisenbahnfahrt, Regenbogen-Verlag 1978
Zelluloid Paradies, Beobachtungen auf dem Markt der Mythen,
Edition Howeg 1979
Tingeltangel, Classen, 1982
Charivari oder Änderung vorbehalten, Ein Stück
für Clowns, 1983
Die Bilder der Sprache, Orte-Verlag, 1988
Eigentlich Xurambambo, ein Grundbuch, Orte-Verlag, 1993
Katalog von Allem, 1111 Nummern aus 31 Jahren, Knaus Verlag,
1999 (enststanden 1968-1999).
Filmographie (produziert
für das Schweizer Fernsehen)
Jean Tinguely und Andy Warhol. Magazinbeiträge,
1967/1991
Als Graz an der Limmat lag. Magazinbeiträge zum Verhältnis
von Österreich und der Schweiz, 1971/78/83
"Wenn Steine reden könnten..." Der Wiederaufbau
von Warschau nach dem Zweiten Weltkrieg, 1975
"Staatenlos im Nirgendwo". Eine Begegnung mit
dem scharfzüngigen deutschen Gesellschaftskritiker
Walter Mehring, 1979
"Dada lebt nicht nur - Dada blüht!" Marcel
Janco, Zürcher Dadaist der ersten Stunde, im Gespräch,
1984
Die Welt heisst Brasilien. Auf den Spuren des Schweizer
Schriftstellers Blaise Cendras, 1985
Die Bilderwelt Brasiliens. Brasilien in den Augen seiner
Künstler und Schriftsteller, 1996
"In Allem ist Alles". Auf den Spuren des Dichters
Kurt Guggenheim durch Zürich, 1996
Ein Fest für Ernesto. Der Künstler Bernhard Luginbühl
und seiner Familie, 1997
"Ich muss unsichtbar werden". Über den amerikanischen
Künstler Robert Rauschenberg, 1998
Alle Macht den Bildern! Kunst in der Schweiz um 1968, 1998.
1110.
das Nichts
der Kurs in japanischer Kalligraphie, von dem Hilda Sigg
nach Hause kam und erzählte, sie hätte heute in
der Klasse das Schriftzeichen für "Alles"
schreiben gelernt,
1110a
und das Schriftzeichen für "Nichts", in dem
sie, als sie es schreiben lernte, das Zeichen für "Alles"
wiedererkannte,
1110b
und dieser Katalog von Allem, der, würde man seinen
Titel japanisch schreiben, als Katalog von Nichts gelesen
werden könnte, was für den Leser die beglückende
Befreiung von allem bedeuten müsste und damit die Möglichkeit,
endlich leicht zu werden.
1111.
das Ganze
Alles, das nie das Ganze sein kann, sondern nur die Hälfte
ist, solange es nicht auch Nichts einschliesst, weil erst
Nichts und Alles zusammen das Ganze sein können,
1111a
und: ...dass Nichts etwas ist und nicht nichts, das wird
mir angesichts des Loches klar, von dem Ovidio Martins sagt:
"Wo nichts ist, kann kein Loch sein, denn wäre
dort ein Loch, so wäre ja dort etwas",
1111b
und: ... dieses Eins, eins, eins, eins, das nichts ist als
die vierfache Intensivierung von eins, genau wie wenn jemand
statt "Nein!" sagt "Nein, nein, nein, nein"
und statt "Ja, ja, ja, ja" ganz einfach "Ja!"
Page créée le: 09.10.01
Dernière mise à jour le 09.10.01
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