Pressecho auf "Der Geliebte
meiner Mutter"
Ein grosses Echo
Urs Widmers Roman hat in den Schweizer
Feuilletons ein grosses, vielstimmiges Echo ausgelöst.
Auch wenn die Figur der Mutter im Zentrum des Buches steht,
hat die Figur Edwins weit mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Insbesondere die Parallelen zur Biographie Paul Sachers
haben zu vielen Mutmassungen und Interpretationen Anlass
gegeben.
Schon eine Woche vor Auslieferung
des Buches wies Gunhild Kübler in der
"Weltwoche" (10.8.00) auf diese offenkundige
Nähe hin und stellte ausführlich die Person Sachers
ins Zenturm ihrer Rezension.
"Der Mann [Edwin] ist erfunden,
doch kommt er einem bekannt vor. Er könnte Paul Sacher
heissen, wären da nicht ein paar kleine Unterschiede
wie etwa, dass jener zunächst Geiger und nicht wie
Edwin Klavier spielte und dass das erste Konzert seines
Basler Kammerorchesters am 21.1.1927 stattfand und nicht
wie das von Edwins Jungem Orchester am 12.7.1926. Zudem
ist, dafür bürgen See und Grossmünster, der
Schauplatz des Romans eher Zürich als Basel. Und natürlich
hatte Paul Sacher als Chef der Chemiefirma Hoffmann-La Roche
mit Maschinen nichts zu tun. Trotzdem wird es in den nächsten
Wochen zum unterhaltenden Spiel für die Schweizer Leserschaft
werden, herauszufinden, was in diesem Roman Faktum, was
Fiktion ist."
Damit sollte Gunhild Kübler
Recht behalten, wenngleich nicht zum Besten für das
Buch selbst. "Der Geliebte meiner Mutter" avancierte
zum Schlüsselroman über die Figur Edwins alias
Paul Sachers. Darob in Vergessenheit geriet die Mutter,
die eigentliche, die tragische Protagonistin.
"Man
braucht nur ein Porträt zu betrachten von Paul Sacher,
der am 26. Mai 1999 im Alter von 93 Jahren starb, und man
erkennt die beschriebene Person so klar wie auf einem Fahndungsfoto",
schrieb Roger Anderegg in der
Sonntagszeitung (13.8.00), allerdings um den Hinweis
erweitert, dass Widmers Roman im Grunde eine Hommage an
die leidende Mutter sei: "Ein
so liebevolles, warmherziges Porträt der Mutter konnte
nur ein Sohn schreiben, der inzwischen selbst das Leben
erfahren hat, das Leben mit seinem Glanz und seinem Elend,
das Leben mit seinem Glück und seinem Unglück."
"Urs
Widmer hat kein Buch über Paul Sacher geschrieben",
aber doch dessen Leben "als
Materialsammlung für den Roman über seine Mutter
benutzt", heisst es in einem Beitrag von Sigfried
Schibli in der
Basler Zeitung (18.8.00), worin gleich anschliessend
einige pikante Parallelen zwischen Edwin und Sacher aufgelistet
sind. Im Zentrum davon das Verhältnis des Ich-Erzählers
zur Person Urs Widmers beziehungsweise - vorsichtig zwischen
Klammern gesetzt - die gemunkelte Identität von Widmers
Mutter mit der fiktiven Mutter als wirklicher Geliebten
Sachers: "ob Widmer der
Sohn einer Ex-Geliebten von Sacher, die über dieser
Liebe zerbrochen ist, oder am Ende gar eine Frucht dieser
liaison scandaleuse ist, wissen wir nicht und wollen es
auch nicht wissen)".
Diese Spekulationen und biographischen
Bezüge ermöglichten es Michael Braun in einer
zweiten, wichtigeren Besprechung in derselben Ausgabe der
Basler Zeitung, es beim kurzen Hinweis auf Sacher
bewenden zu lassen und die Handlung stattdessen als tragische
asymmetrische Liebes- und Lebensgeschichte zu lesen, mit
besonderer Betonung des Mutterthemas bei Widmer: "Der
unglücklichen Heldin wird also die dominante Rolle
im Liebesverhältnis zugeschrieben, das ja immer nur
eine unerfüllte Sehnsucht bleibt. Aber welches Roman-Ich
erzählt vom «Geliebten der Mutter»? Es
ist der verlorene, unglückliche Sohn, dem zu Lebzeiten
der Mutter deren Liebe stets vorenthalten blieb und der
nun eine posthume Liebeswerbung betreibt. «Der Geliebte
der Mutter»: Ist das bei Widmer nur ein Phantasma,
eine sehnsüchtige Projektion und liebesnärrische
Obsession, mit denen das epische Double des Autors ein Objekt
der Begierde entwirft? Einmal mehr präsentiert Urs
Widmer mehr seine Fähigkeiten zur literarischen Zauberei
- alles wird in der Schwebe gehalten, alles unterliegt dem
listigen Spiel der Einbildungskraft und bewegt sich in jenem
offenen Raum der Ambivalenzen, in dem Literatur entsteht.
Besonders bei den Binnen- und Nebengeschichten des Romans
bewegt sich Widmer sehr freizügig auf dem Terrain von
Legende und modernem Märchen." Und abschliessend:
"vielleicht ist mit diesem «Requiem» -
so nennt es der Icherzähler - tatsächlich jenes
unerreichbare Wunsch-Buch entstanden, von dem Widmers Erzähler
in «Das Paradies des Vergessens»(1990) sagt,
dass er «sein Ganzes» in es legen wolle. «Der
Geliebte der Mutter» enthält jenes «Ganze»:
Sehnsucht und Liebe, Glück und Scheitern, Kunst und
Macht, Lebenszeit und Weltzeit, Alter und Tod - und finsterste
Seelenschwärze."
Einen ähnlichen Schwerpunkt
setzte auch Sandra Leis im
Bund (19.8.00), wobei sie gerade die Passagen, die vornehmlich
Edwin gewidmet sind, qualitativ für die schlechteren
hielt. Diese "Liebeserklärung
an die Mutter" gewann für sie da an Eindringlichkeit,
wo diese ins Zentrum rückt. "Viel
anschaulicher und präziser wird der Roman mit der Geburt
des Ich-Erzählers: Denn der phantasiert sich nun nicht
mehr in seine Mutter hinein, sondern erinnert sich an sie
und an eine Kindheit mit einer Mutter, die nie ganz da ist.
Ihr Kind floh vor ihr, ich, und reckte ihr dennoch
die Ärmchen entgegen. Abstossung und Anziehung
sind die Antipoden dieser Mutter-Sohn-Beziehung, in der
es für einen Vater keinen Platz mehr gibt... Was vor
der Geburt des Sohnes in dessen Vorstellungskraft ziemlich
karg daherkommt, gerinnt nachher zu einem eindringlichen
Porträt einer Frau, die zeitlebens am Wahnsinn einer
unerwiderten Liebe leidet, im Schlafzimmer eine Art Edwin-Altar
aufbaut, alle Todesarten durchspielt und mehrmals in psychiatrischen
Kliniken landet."
Unter der Überschrift "Der
Verrat am Stoff" äusserte auch Roman Bucheli
in der NZZ
(17.8.00) eine ähnliche Kritik, wobei ihm vor allem
der burleske Ton missfiel, mit dem die Männer in diesem
Roman "wie Pappkameraden"
hinwegsterben. Dabei kümmerten ihn nicht einmal die
Schlüsselszenen und biographischen Anleihen (Sacher
erwähnte er in einem Nebensatz), sondern um die sprachliche
Bewältigung der beiden Lebensgeschichten. "Nur
einmal erleben wir Urs Widmers Prosa auf der Höhe der
Kunst, und nur dieses eine Mal lässt uns der Erzähler
ganz nah an seine Mutter heran. Er schildert die Rückkehr
der Mutter aus einer psychiatrischen Klinik, wo sie nach
einem Nervenzusammenbruch mit Elektroschocks behandelt
worden war. Innerlich ausgebrannt, nach aussen hin ohne
Regung, betäubt sich die Mutter mit Gartenarbeit. In
fiebriger Besessenheit pflanzt, hegt und erntet sie. Taub
für jedes Gefühl und stumm gräbt sie sich
in ihre Einsamkeit ein. Was um sie herum und in der Welt
vorgeht: Sie nimmt davon keine Notiz. Hitler griff
Russland an, und die Mutter setzte Zwiebeln. Hitler belagerte
Moskau. Die Mutter riss Rüben aus. In dieser
grellen Verklammerung wird der Mutter eine Schlinge um den
Hals gelegt; noch liegt sie zwar ganz locker, aber man ahnt,
wie sie sich immer enger zusammenziehen wird. Vieles wurde
zuvor von den seelischen Qualen der Mutter gesagt und behauptet;
nun - im Unausgesprochenen - erhält das Unglück
eine überzeugende Gestalt. Diese etwas mehr als sieben
Seiten geben eine Ahnung, was aus dem Stoff hätte entstehen
können."
Gerade gegenteilige Ansicht äusserte
Christine Lötscher im Tages-Anzeiger
(16.8.00): "Überhaupt,
das Tempo ist enorm in diesem Buch. Häufig stürmt
man mit, ab und zu flitzen die Augen ohne den Kopf auf und
davon. Am besten galoppiert es sich immer dann, wenn die
Geschichte das sprachliche Accelerando dramaturgisch mitmacht
und einen Höhepunkt erreicht, auf den dann eine Generalpause
folgt." Überraschenderweise erkannte Lötscher
das eigentliche Thema aber nicht in der Mutter, sondern
in der Person von Edwin alias Sacher: "Der
Romantitel lautet ja Der Geliebte der Mutter,
und um ihn, den Mann, der Paul Sacher bis aufs Haar gleicht,
geht es vor allem. Ob wohl nicht einmal die Literatur die
Macht hat, die Machtlose gegen den Schnöden siegen
zu lassen? Wenn man jedoch liest, was Widmer zu dieser Dirigentenfigur
alles eingefallen ist, versteht man die Gewichtung nur zu
gut. Wie er stirbt!" Im Gegensatz zu Gunhild
Kübler und anderen jedoch mochte Christine Lötscher
nicht die Realbezüge aufdecken, die Figur Edwins genügte
ihr.
Aus der Ferne Berlins wahrte Eva
Leipprand die Distanz zum Schlüssel-Skandalon, das
womöglich in diesem Buch steckt. "Natürlich
wird dieses Buch Anlass zu mancherlei Spekulationen geben
- ob es da autobiographische Züge gibt, ob der Garten
hier nicht der Garten dort am Rand von Basel ist, und vor
allem ob Edwin, der Geliebte der Mutter, nicht doch einiges
mit dem im Mai 1999 gestorbenen Paul Sacher gemein hat",
mit Bezug auf Widmer selbst schloss Leipprand ihre Rezension,
die sich genauer an den "ebenso
knappen wie dichten Text" hielt: "Es
ist das gelungen, was Widmer in einer Poetikvorlesung einen
"ästhetischen Sieg" genannt hat. Die Trauer
löst sich - ein Rest Wehmut bleibt - in der Schönheit
seiner Sätze auch." (Der
Tagesspiegel, 19.8.00)
Interessant, wenngleich wenig beachtet,
sind die Aussagen von Widmer selbst
geblieben, die er in einem Gespräch mit der Sonntagszeitung
(13.8.00) äusserte. Auf die hartnäckige Nachfrage,
ob er die Figur Paul Sacher recherchiert habe, erwiderte
er: "Nein. Wozu denn? Ich
habe Paul Sacher nicht gekannt, nie ein Wort mit ihm gesprochen."
Und auf den erwartbaren Erfolg gerade wegen der Schlüsselfigur
Edwins angesprochen: "Das
würde mich schmerzen. Weil dieser Roman in keinster
Weise auf Sensation oder gar auf eine Abrechnung zielt."
Widmer schrieb nach eigener Aussage ein biographisches Porträt
seiner Mutter: "Ich habe
ein Buch zu schreiben versucht, das ganz nahe bei meiner
Mutter bleibt. Ich habe die Geschichte meiner Mutter aufgeschrieben
und musste auch diese in gewissem Masse in Fiktion verwandeln,
denn anders kann man gar nicht schreiben."
Darin liegt seine Stärke, allerdings
muss sich Widmer trotz dieses deutlichen Dementis den Vorwurf
gefallen lassen, in seinem Roman die biographische Nähe
des mütterlichen Geliebten mit der Figur Paul Sachers.
Page préparée par Beat
Mazenauer
Page créée le 09.10.01
Dernière mise à jour le 09.10.01
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