Es ist trotz seines bescheidenen Titels
eines der meistverkauften Bücher der Schweizer Literatur,
übersetzt in mehrere Sprachen, weltweit gefeiert: "Bruchstücke
aus einer Kindheit 1939-1948". Dass die darin beschriebenen
Erinnerungen an die Konzentrationslager Majdanek und Auschwitz
keine Erinnerungen, sondern Erfindungen sind, ist inzwischen
kein Geheimnis mehr. Der Autor Binjamin Wilkomirski hat nicht,
wie er im Nachwort behauptet, als jüdisches Kind nach
dem Krieg in der Schweiz "eine neue Identität erhalten",
sondern seine nachweislich schweizerische Identität zur
jüdischen umgeschrieben. Dank den Enthüllungen des
Schriftstellers Daniel Ganzfried flog der Schwindel auf und
stiftete Verwirrung unter denen, die den Bericht als authentisches
Zeugnis gelesen hatten. Die Holocaustleugner witterten ihrerseits
ihre grosse Stunde: Endlich war einer jener Schwätzer
auf frischer Tat ertappt, die Schauergeschichten von Vergasungen
und Massenvernichtungen erfanden. Konfusion allenthalben.
Was hat Wilkomirski falsch gemacht? Eine Geschichte frei
zu erfinden gilt, seit es Literatur gibt, nicht als ehrenrührig,
und wenn die Verwirrung nach der Lektüre von "Werther"
auch einen seligen Tag lang vorhält, denkt doch niemand
daran, Goethe wegen unwahrer Behauptungen einen Lügner
zu schimpfen. Obwohl dessen Briefroman die Illusion, Dokument
eines wahren Dramas zu sein, wirkungsvoll inszeniert. Zwischen
Goethe und Wilkomirksi gibt es offenbar Unterschiede. Goethe
hat sich, auch wo er in blauer Weste und gelber Hose auf Reisen
ging, nie für Werther gehalten. Wilkomirski dagegen setzte
eine erfundene Biographie in die Welt, um sie anschliessend
zu leben. Indem er seine Fiktion in reales Leben verwandelte
(und nicht umgekehrt), wurde er zum Betrüger. Ob dadurch
auch das Buch zum Betrug wird, ist freilich weniger leicht
zu sagen. Immerhin stützt es sich auf historisches Material
und vermochte manchen Experten zu überzeugen. Es gibt
den Fall Wilkomirski, zweifellos. Muss es zwangsläufig
auch einen Fall "Bruchstücke aus einer Kindheit"
geben?
Die Frage drängt sich auf, nachdem das Buch Gegenstand
einer Gerichtssache geworden ist. Rechtsanwalt Manfred Kuhn
aus Uster reichte gegen Wilkomirski Strafanzeige wegen gewerbsmässigem
Betrug ein. Mit einer höchst originellen Begründung:
Als Leser sehe er sich aufgrund der "arglistig erschlichenen
Anteilnahme an diesem Thema" um den Buchpreis sowie um
einen Teil seiner Lebenszeit geprellt. Sollte er den Prozess
gewinnen, wird Wilkomirskis Werk nicht als Holocaustbuch,
sondern als atemberaubender Präzedenzfall in die Geschichte
des Lesens eingehen. Denn dies bedeutete nichts mehr und nichts
weniger, als dass es das Recht gibt, die Enttäuschung
über ein Buch in eine Strafanzeige gegen den Verfasser
umzusetzen. Autorinnen und Autoren würden ex officio
zu gewerbsmässigen Betrügern arglistig (zumindest
listig) die Anteilnahme an einer Geschichte zu erschleichen
gehört schliesslich zu ihrem Metier! -, die Leserinnen
und Leser zu Detektiven in eigener Sache. Manch einer mag
die rapide Abnahme der Belletristik, die daraus zwingend folgen
würde, begrüssen. Freilich müsste er beachten,
dass sie von einem überproportionalen Anschwellen einschlägiger
Gerichtsakten begleitet wäre. Die flexibleren unter den
Autorinnen und Autoren würden, dem Trend gehorchend,
dem schönen Schein entsagen und kurzerhand in den Gerichtssaal
wechseln, von wo aus sie das Publikum mit garantiert ungelogenen
Gerichtsreportagen bedienten.
Kann sein, der Tag würde kommen, wo die Leserinnen und
Leser der Verführung nicht länger widerstehen könnten.
In aller Heimlichkeit liessen sie sich unter dem Ladentisch
für teures Geld ein verruchtes Buch reichen. Eines, das
kein Hehl daraus machte, es wolle ihre Anteilnahme arglistig
und ohne Rücksicht auf Verluste erschleichen. Eines,
von dem sie ahnten, dass es sie um einen Teil ihrer Lebenszeit
bringen würde, den schönsten erst noch, die Stunden
vor dem Einschlafen oder die am Sonntagmorgen im Fauteuil,
wenn es regnet und eine Kanne Kaffee auf dem Ofen dampft.
Rudolf Bussmann
Page créée le 30.03.00
Dernière mise à jour le 20.06.02
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