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Drehpunkt 106

Die Schweizer Literaturzeitschrift
http://www.dreh-punkt.ch

  drehpunkt 106
 

drehpunkt 106

 

Im Land der Morgenstille
Lyrik und Prosa aus Südkorea

Herausgegeben von
Rudolf Bussmann und Martin Zingg

Nr. 106, März 2000

  Inhaltsangabe


Im Land der Morgenstille

Minyop Seong über koreanische Gegenwartsliteratur
Kil-Un Hyun: Heimkehr
Chi-Woo Hwang: Gedichte
Jooyoung Kim: Hereingeschneit
Hedok Ra: Gedichte
Won Woo Kim: Gespräch im Atelier
Kwang-Kyu Kim: Gedichte
Ha-Jin Seo: Pagodendorf
Su-Kwon Song: Gedichte
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Koreanische Literatur in deutscher Übersetzung

Alles probiert

Oskar Pastior: Gedichte
Beat Brechbühl: Gedichte
Jürgen Theobaldy: Alles probiert!
Maria Magdalena Cervenka: Gedichte
Eine Nacht im Leben von Amélie Plume

Hinweise und Besprechungen

Rudolf Bussmann über Werner Lutz und Kurt Marti
Werner Morlang über Aglaja Veteranyi
Elsbeth Pulver über Melitta Breznik
Ch. Wegmann über Perikles Monioudis und Peter Stamm
Martin Zingg über den kleinen Grenzverkehr
Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren
Impressum

 

  Liebe Leserin, lieber Leser

Das Land ist 99'392 Quadratkilometer gross, es zählt 46 Millionen Einwohner, davon leben gegen 11 Millionen in der Hauptstadt Seoul, und wenn das Land genannt wird, denken wir an Autos und Computer und Olympische Sommerspiele, und Asienkrise und Mühen mit der Demokratie. An Literatur denken wir wohl kaum, wenn von Südkorea die Rede ist. Das kann weiter nicht verwundern, denn beides, die koreanische Sprache und die koreanische Schrift, sind uns nur mit Mühe zugänglich, Übersetzungen ins Deutsche gibt es noch nicht viele.

Aber das Interesse an Korea, vor allem an dessen südlichem, offenem Teil, nimmt zu. Davon zeugt auch die vorliegende Nummer, die den Versuch unternimmt, eine uns noch weitgehend unbekannte Literatur wenigstens in Umrissen vorzustellen. An dieser Nummer, die zur Eröffnung der Korea-Ausstellung im Zürcher Rietberg-Museum erscheint, haben viele mitgearbeitet; besonderen Dank schulden wir Heyong Chong (Seoul) und Hoo Nam Seelmann (Basel), ohne deren Hilfe diese Nummer nicht realisierbar geworden wäre, sowie Seok Suh, der uns grosszügig Zeichnungen zur Verfügung gestellt hat. In unseren Dank schliessen wir alle Autoren und Autorinnen sowie Übersetzer und Übersetzerinnen ein, die von Seoul aus an der kleinen Anthologie mitgearbeitet haben.

Diese Nummer präsentiert auch neue Texte aus der Schweiz, aus Österreich und aus Deutschland. Gedichte von Oskar Pastior, Beat Brechbühl und Maria Magdalena Cervenka sowie Prosa von Jürgen Theobaldy und Amélie Plume. Und, wie immer, Besprechungen von Neuerscheinungen.

Wir hoffen auf Ihre Neugierde und wünschen Ihnen viel Vergnügen beim Lesen.

Rudolf Bussmann und Martin Zingg

 

 Fisimatenten

Es ist trotz seines bescheidenen Titels eines der meistverkauften Bücher der Schweizer Literatur, übersetzt in mehrere Sprachen, weltweit gefeiert: "Bruchstücke aus einer Kindheit 1939-1948". Dass die darin beschriebenen Erinnerungen an die Konzentrationslager Majdanek und Auschwitz keine Erinnerungen, sondern Erfindungen sind, ist inzwischen kein Geheimnis mehr. Der Autor Binjamin Wilkomirski hat nicht, wie er im Nachwort behauptet, als jüdisches Kind nach dem Krieg in der Schweiz "eine neue Identität erhalten", sondern seine nachweislich schweizerische Identität zur jüdischen umgeschrieben. Dank den Enthüllungen des Schriftstellers Daniel Ganzfried flog der Schwindel auf und stiftete Verwirrung unter denen, die den Bericht als authentisches Zeugnis gelesen hatten. Die Holocaustleugner witterten ihrerseits ihre grosse Stunde: Endlich war einer jener Schwätzer auf frischer Tat ertappt, die Schauergeschichten von Vergasungen und Massenvernichtungen erfanden. Konfusion allenthalben.

Was hat Wilkomirski falsch gemacht? Eine Geschichte frei zu erfinden gilt, seit es Literatur gibt, nicht als ehrenrührig, und wenn die Verwirrung nach der Lektüre von "Werther" auch einen seligen Tag lang vorhält, denkt doch niemand daran, Goethe wegen unwahrer Behauptungen einen Lügner zu schimpfen. Obwohl dessen Briefroman die Illusion, Dokument eines wahren Dramas zu sein, wirkungsvoll inszeniert. Zwischen Goethe und Wilkomirksi gibt es offenbar Unterschiede. Goethe hat sich, auch wo er in blauer Weste und gelber Hose auf Reisen ging, nie für Werther gehalten. Wilkomirski dagegen setzte eine erfundene Biographie in die Welt, um sie anschliessend zu leben. Indem er seine Fiktion in reales Leben verwandelte (und nicht umgekehrt), wurde er zum Betrüger. Ob dadurch auch das Buch zum Betrug wird, ist freilich weniger leicht zu sagen. Immerhin stützt es sich auf historisches Material und vermochte manchen Experten zu überzeugen. Es gibt den Fall Wilkomirski, zweifellos. Muss es zwangsläufig auch einen Fall "Bruchstücke aus einer Kindheit" geben?

Die Frage drängt sich auf, nachdem das Buch Gegenstand einer Gerichtssache geworden ist. Rechtsanwalt Manfred Kuhn aus Uster reichte gegen Wilkomirski Strafanzeige wegen gewerbsmässigem Betrug ein. Mit einer höchst originellen Begründung: Als Leser sehe er sich aufgrund der "arglistig erschlichenen Anteilnahme an diesem Thema" um den Buchpreis sowie um einen Teil seiner Lebenszeit geprellt. Sollte er den Prozess gewinnen, wird Wilkomirskis Werk nicht als Holocaustbuch, sondern als atemberaubender Präzedenzfall in die Geschichte des Lesens eingehen. Denn dies bedeutete nichts mehr und nichts weniger, als dass es das Recht gibt, die Enttäuschung über ein Buch in eine Strafanzeige gegen den Verfasser umzusetzen. Autorinnen und Autoren würden ex officio zu gewerbsmässigen Betrügern arglistig (zumindest listig) die Anteilnahme an einer Geschichte zu erschleichen gehört schliesslich zu ihrem Metier! -, die Leserinnen und Leser zu Detektiven in eigener Sache. Manch einer mag die rapide Abnahme der Belletristik, die daraus zwingend folgen würde, begrüssen. Freilich müsste er beachten, dass sie von einem überproportionalen Anschwellen einschlägiger Gerichtsakten begleitet wäre. Die flexibleren unter den Autorinnen und Autoren würden, dem Trend gehorchend, dem schönen Schein entsagen und kurzerhand in den Gerichtssaal wechseln, von wo aus sie das Publikum mit garantiert ungelogenen Gerichtsreportagen bedienten.

Kann sein, der Tag würde kommen, wo die Leserinnen und Leser der Verführung nicht länger widerstehen könnten. In aller Heimlichkeit liessen sie sich unter dem Ladentisch für teures Geld ein verruchtes Buch reichen. Eines, das kein Hehl daraus machte, es wolle ihre Anteilnahme arglistig und ohne Rücksicht auf Verluste erschleichen. Eines, von dem sie ahnten, dass es sie um einen Teil ihrer Lebenszeit bringen würde, den schönsten erst noch, die Stunden vor dem Einschlafen oder die am Sonntagmorgen im Fauteuil, wenn es regnet und eine Kanne Kaffee auf dem Ofen dampft.

Rudolf Bussmann

 

Page créée le 30.03.00
Dernière mise à jour le 20.06.02

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